„Wenn um 20 Uhr der Gong ertönt, beginnt keine Sendung, sondern ein Ritual, denn die Tagesschau ist eine Institution, fester betoniert als der arbeitsfreie Sonntag." Über Angst, Rituale, Einsamkeit, Nachrichten und eine Kulturgeschichte des Kotzens. Nicht nur aber besonders in "Zeiten von Corona".

Momentan wache ich morgens viel zu früh mit Bauchschmerzen auf und mein erster Gedanke ist: "Ach Du Scheiße. Corona." Ich erinnere mich noch, wie ein älterer Herr sich zu Beginn der Krise angesichts der Hamsterkäufe in Italien wunderte, dass die Angst vor dem Coronavirus größer sei als zu Beginn des 2. Weltkriegs. Woran liegt das? hab ich mich gefragt. Gingen die früher gelassener mit der Angst um? Meine erste spontane Antwort war: es gab noch kein Fernsehen und kein Internet. Seit Wochen werden wir mit Bildern von Menschen in Schutzanzügen, Krankenhäusern, Viren konfrontiert, die wir nur aus Horrorfilmen oder aus dem fernen Afrika ( Ebolaausbruch ) kannten. Viele meiner Freunde erlebten die rasante Entwicklung und die Fernsehbilder wie einen Realitästverlusts: "Das ist wie im Film - das kann nicht wahr sein." Es erinnerte auch ein wenig an den Schock der Fernsehbilder vom 11. September 2001.
Um der Angst auf den Grund zu gehen, versuche ich herauszufinden, wie andere Kulturen mit ihr umgingen. Ich lese Macht und Magie in Italien. Es geht um Lukanien, eine Region zu der auch Teile Apuliens gehören. Es geht um Hexerei, den bösen Blick, Magier, Heilerinnen und Totenklage.
"In Lukanien ist die Hexerei eine Kultur der körperlich würgenden Angst, wo einem das Blut in den Adern stockt." so Thomas Hauschild, der in den 80er Jahren Feldforschungen in Lukanien ( heute Teile von Basilikata, Kalabrien und Apulien ) durchführte, um die Physiologie, Soziologie und die Poltitik des Heiligenkultes um San Donato, Schutzheiliger der Epileptiker, zu untersuchen. Als Symptome dieser würgenden Angst und Besessenheit beobachte er: Speicheln, Erbrechen, lähmende Umnachtung, Wellen von Hitze und Kälte, Schweißausbrüche, Herzjagen oder Pulsverlangsamung. Die Psychosomatik der Angst ist ohne Anker, schreibt er und etymologisch stammt Angst von Enge. Weitere körperliche Symptome sind: Unterdrückung des Atems oder Überatmung, die beide das Blut „festbinden“, wodurch das Gehirn unterversorgt wird und um die immer gleichen Gedanken kreist bis hin zur Ohnmacht und Krämpfen. Die Patienten in Lukanien beschrieben, dass ihnen das Blut in den Adern stocke und sie sich gewürgt fühlten. Sympathisches und parasympathisches Nervensystem blockieren sich gegenseitig. Der Körper kann an keinem Tausch mehr teilnehmen. Essen wird verweigert oder erbrochen, Wasser, Kot und Speichel fließen. Manche fielen in eine Schreckckstarre, die, wenn sie länger andauerte, zu einer Depression wurde.
Für Hauschild gehen die in Lukanien beobachteten Symptome genauso wie heutige Erschöpfungszustände und Infarkte auf den von Wilhelm Reich beschrieben Urgegensatz des Lebens von Emission ( Kotzen) und Depression zurück. Schon die christlich alchemistische Medizin erfand daher viele Mittel, um Menschen zum Brechen zu bringen. Kräuterliköre, die Verabreichung von Bitterstoffen, Johanniskraut , der "amaro" und der caffè, der in Italien in medizinisch kleinen Dosen im Stehen getrunken wird, gehen abgeblich darauf zurück.
Aber neben der Heilung körperlicher Symptome, was hiflt der Seele? In jeder Weltreligion, meint Hausschild, finden wir das elementare Bedürfnis des Menschen, seine eigene Natur zu verdoppeln, in dem er sich ein Medium, ein Gegenüber, schafft, das vom Leben und vom Tod spricht. Welche Medien haben die sogenannten aufgeklärten Gesellschaften, wie sprechen sie von Leben und Tod?

Mir fällt das Buch "Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell" von Klaus Theweleit in die Hände und ich werde neugierig .Das Gefühl des Realitätsverlusts angesichts der Bilder des 11. Septembers führten viele Kommentatoren damals darauf zurück, dass das, was vorher als Fiktion in vielen Actionfilmen zu sehen war, ( Die Hard, Independence Day, Mars Attacks ) plötzlich "in echt" im Fernsehen passierte. Klaus Theweleit aber meint es sei weniger eine Frage von real oder irreal, sondern von Nähe und Distanz: „Was wir jetzt im Fernsehen sahen versicherte uns nicht mehr unserer Unverletzlichkeit, unseres Überlebens, unserer Unsterblichkeit sondern des Gegenteils. Die Immunisierungsbilder sind umgeschlagen in Infektionsbilder."
Nachrichten - ein modernes Ritual gegen Angst
„Wenn um 20 Uhr der Gong ertönt, beginnt keine Sendung, sondern ein Ritual, denn die Tagesschau ist eine Institution, fester betoniert als der arbeitsfreie Sonntag." (Hermann Meyn).
Publizistik- und Medienwissenschaftler sehen nicht nur die geregelten Wiederholungen im Fernsehen, sondern auch Auswirkungen des Fernsehens und der Massenmedien auf den Alltag als ritualisierte Handlung. Umfragen zeigen, dass viele Menschen sich kaum noch an die Meldungen und Themen einer Nachrichtensendung erinnern, wenn man sie kurz danach dazu befragt. Die meisten Menschen sehen Nachrichten, um sich zu vergewissern, dass keine wirklich bedrohliche Gefahr auf sie zukommt. In der Regel sind lebensbedrohlichen Gefahren wie Hunger, Krieg und Krankheit für uns Europäer ziemlich weit weg.
Wer fernsieht, stirbt nicht. CNN Concatenated
CNN Concatenated 2002 ist ein Video des Künstlers Omar Fast, das von der Berichterstattung der Ereignisse des 11. Septembers inspiriert wurde. Es setzt sich zusammen aus Ausschnitten des amerikanischen Fernsehnachrichtensenders CNN und thematisiert die Rolle der Medien bei der Schaffung öffentlicher Angst. Die kurzen Schnitte parodieren die Non-Stop-Natur der vierundzwanzigstündigen Dauersendungen und die Dringlichkeit, mit der Nachrichten präsentiert werden. Im Video entstehen Monologe, in denen sich die Nachrichtensprecher mit folgender Message direkt an den Zuschauer richten:
...." you're afraid of dying alone but you're even more terrified of dying in public look its not happening at this very moment perhaps not as long as you listen and watch people don't die in front of their televisions "....
Das Video ist eine Kritik daran, wie Nachrichtensendungen Bildmaterial verwenden, um emotionale Reaktionen der Zuschauer zu erzeugen.
Pierre Bourdieu kritisierte die Berichterstattung als eine aus einzelnen Momentaufnahmen zusammengesetzte Repräsentation der Welt, die in keinen geschichtlichen Kontext eingebettet wird. Diese Sichtweise findet ihren deutlichsten Ausdruck in dem Bild, das die Fernsehnachrichten von der Welt vermitteln: eine Abfolge scheinbar absurder Geschichten, die sich letztendlich alle irgendwie ähneln, ein ununterbrochener Aufmarsch bedauernswerter Völker, eine Folge von Ereignissen, die ohne jede Erklärung auftreten und deshalb auch ohne jede Lösung wieder im Dunkel verschwinden werden. Sie unterscheiden sich kaum mehr von Naturkatastrophen.
Haben uns die Naturkatastrophen vergangener Tage aber emotional und körperlich nicht erreicht oder geängstigt, so ist sie jetzt da: die Corona Angst und dazu ein Dauerbeschuss mit den entsprechenden Bildern und Worten. Einige Staatschefs wie Macron sprechen inzwischen von Gesundheits-Krieg, die Massnahmen wie Ausgangssperren ähneln inzwischen denen im Krieg. Bilder wie Fernsehaufnahmen von Militärkonvois, die in Spanien eingesetzt wurden, um Atemmasken zu transportieren, werden inszeniert, um - wie es hieß - der Bevölkerung den Ernst der Lage zu demonstrieren. Man könnte auch sagen, um Angst zu machen. Als ehemalige Cutterin für öffentlich-rechtliche und private Nachrichtensendungen in Deutschland, weiß ich, dass das Fernsehen mehr als andere Medien meint, es müsse seine Meldungen durch besonders eindringliche Bilder "beweisen".

Isolation vs. Gemeinschaft
Zweiter möglicher Grund für das Ausmass an Angst ist die Isolation, die durch social distancing, Ansteckungsgefahr und das Berührverbot, also den Mangel an Körperkontakt wie Umarmungen, Händeschütteln, Küssen entsteht. Sich in einer solchen Krise körperlich voneinander fern halten zu müssen, kann den Halt, den viele Menschen jetzt brauchen, nochmal erheblich erschüttern. Andere sitzen unfreiwillig auf engstem Raum zusammen und die häusliche Gewalt nimmt zu.
Eine Gemeinschaft ohne Kommunikation wird durch den Verlust gesellschaftlicher Rituale zur Kommunikation ohne Gemeinschaft, meint der Philosoph Byun Chul Han. "Das Ritual ist regelgeleitet – und damit produziert es Wiederholung. Eine Wiederholung holt etwas wieder- oder zurück: nämlich das, was man schon kennt. (..) Rituale helfen dem Menschen, sich in der Welt zurechtzufinden und häuslich einzurichten. Sie bringen Gemeinschaften ohne Kommunikation hervor, die im polaren Gegensatz stehen zur Kommunikation ohne Gemeinschaft. An hashtags, Werbespots oder Plakaten, wo ein "Gemeinsam gegen das Virus" beschworen wird, mangelt es sicher nicht. Über mangelnden menschlichen Kontakt tröstet das nicht hinweg. Es ist eher ein leeres Ritual, das in Krisenzeiten gerne hervorgezaubert wird " Wir schaffen das". Aber es holt keine Gemeinschaft zurück, weil sie vorher schon nicht da war.
Das Wissen der Lukaner, so Hauschild beschränkt sich in der Krise nicht auf den Stoffwechsel im Menschen, sondern auch auf Tauschbeziehungen zwischen den Menschen. Traditionelle Kulturen haben Erfahrungen entwickelt, wie der Einzelne mit der Gruppe in Kontakt kommt, z.B. durch Geschenke, gemeinsames Essen, Reinigungs- und Trauerrituale, kollektive Trancen oder Prozessionen. Diese Rituale hat es bis ins 19. Jahrhundert in weiten Teilen Europas gegeben. Dann wurden Kotzen und Depression zu einer Privatangelegenheit oder in die Irrenhäuser verbannt. (Man denke an die Hysterikerinnen.)
Geblieben sind heute Medien wie der Horrorfilm oder die Heiligenfiguren des alten Europa , in denen wir noch eine nach außen gestülpte Körperlichkeit erfahren. Die Heiligenfiguren stellen einen zwischen Leben und Tod gebannten Körper dar, der Menschen nach großer Aufregug ihren Frieden wiedergeben soll. In Randgebiten wie Süditalien halten sich kollektive Rituale von Emission und Depression vereinzelt bis heute z.B. Tarantella.
-> Die unheimliche Schönheit religöser Bilder
Aby Waburg und die Bannung der Angst in Bildern

Die existenzielle Funktion von Bildern und Kunst sah der Kulturwissenschaftler Aby Warburg darin, Ängste zu bewältigen. Bilder zu malen oder Skulpturen zu schaffen sah Aby Warburg als Versuch,
Orientierung in einem bedrohlichen Chaos zu schaffen. Es ist eine Art Beschwörungsformel, mit der der Mensch den in Bildern gebannten Ängsten entgegentritt. Sie lautet: „Du lebst, aber du
tust mir nichts.“ Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt sieht er als Grundakt menschlicher Zivilisation.
Telefon und Telegramm sah Warburg aber bereits als modernen Prometheus und Ikarus, die das Gefühl von Distanz zerstören.
-> Aby Warburgs Atlas der Leidenschaft
Settimana Santa - Osterrituale in Apulien

Als ich diesen Artikel über die Osterritaule in Apulien schrieb, wurde mir klar, was antike und moderne Kultur so grundlegend unterscheidet. Antike Kulturen beinhalten Akte der Verehrung, des Bittens, Betens und Hoffens. Der Kulturarbeiter der Antike war der Priester, der dem Menschen klarmachte, wie wenig er sein Schicksal in der Hand hat und kontrollieren kann. Rituale, wie Prozessionen, heilige Messen und Feste stellen angesicht des Leids Gemeinsamkeit her.
"In Apulien sind die Ereignisse, die mit der Settimana Santa in Verbindung stehen, immer ein Bezugspunkt für Gemeinschaftlichkeit im Sinne von Teilnahme, emotionaler Mitwirkung und Ergiffenheit."
-> Settimana Santa - Ostern in Apulien
Tarantismus als Heilmethode

Tanzwut war im Mittelalter eine epidemische Erscheinung und lässt jetzt ein bißchen an Corona- Partys denken. Der heilige Veit war der Schutzpatron der Tänzer und wurde in Fällen von Krämpfen, Epilepsie, Tollwut angerufen. Diese Tanzepedemien versuchte die Kirche überall in Europa durch kanonischen Exorzismus zu disziplinieren. In Nordeuropa hatte sie damit Erfolg, in Apulien entstand der mystisch-rituelle Symbolismus der Tarantella. Ernesto De Martino zeigte, dass der Tarantismus, eine wirksame Heilbehandlung seelischer Krisen und Ängste durch Tanz, Musik und Farben war. Der Tarantismus war eine häusliche Kur, bei der Angehörige aus Solidarität mit den Tarantierten häufig mittanzten und bei der angestaute psychische Energien abreagiert werden konnten. -> Ernesto de Martino und der Tarantismus
Religion

"Die Katholiken malen Madonnen, um sich zu trösten." meint Navid Kermani. Sie malen Bilder eines makellosen Gesichts, rein von Erfahrung, weil es ohne Trost nicht geht.
Ist Religion eine Antwort auf das Schweigen der Welt? Religion kümmert sich um die großen Menschheitsthemen – Schutz, Tod, Trost, Mitleid oder Trauer. Jedes Dorf in Apulien hat mindestens einen Schutzheiligen, dem magische Kräfte z.B. beim Kampf gegen Heuschreckenplagen oder die Pest zugeschrieben werden. Zwei Artikel zum Thema Religion:
-> Madonnen und Ikonenmalerei der Byzantiner
Tod und Trauerriten
Auch Menschen früherer Kulturen hatten keine naturalistische Sichtweise des Todes nach dem Motto: der Tod ist ein natürliches Ereignis, das dem Leben ein Ende setzt. Der Tod wurde als Bedrohung und feindliche Kraft einerseits, aber auch als Quelle des Lebens gesehen. Die Funktion von Trauer und Bestattungsritualen lag darin, die Krise, die der Tod in der Gemeinschaft auslöst, einzudämmen.
Totenriten haben analog zu den Opferriten das Ziel, die bösartige Gewalt des Todes auszustoßen und die Gemeinschaft vor ihr zu schützen. In allen Bestattungsriten erkennt man das gleiche kulturanthroplogische Prinzip: die Krise verlangt Opferung und Ausstoßung, damit die Gemeinschaft zu neuer kultureller Ordnung zurückfinden kann. Die Trauer um die Toten verstärkt die Solidarität der Lebenden. „ Es gibt keinen Tod, der nicht einigende Trauer weckt, es gibt in der Gemeinschaft keinen Tod, der nicht zu einer Hauptquelle des Lebens würde.“ In diesem Sinne geht alle Kultur für den Religionsphilosoph Rene Girard vom Grab aus und versöhnende oder einigende Trauer ist das Wesentliche der menschlichen Kultur.
Baudrillard nannte die Verdrängung des Todes in der westlichen ( modernen) Kultur eine Unverletzlichkeitsphantasie, die sich mit den Anschlägen des 11. September aufgelöst hat. „Vom Tod besitzt sie ( die westliche Kutur) keine Vorstellung mehr seit sie ihn in ihrer eigenen Kultur für Null und Nichtig erklärt hat. Es ist den Terroristen gelungen, aus ihrem Tod eine absolute Waffe gegen jenes System zu schmieden, das sich einer absoluten Todesvermeidung, also dem Prinzip Null Tote verpflichtet hat.“
-> mehr über Trauerriten, Klageweiber, lamento lucano
Gegenzauber

Viele Rituale wie Umarmungen, Treffen mit Freunden und gemeinsames Cafe trinken sind inzwischen nicht mehr möglich. Die Ereignisse haben mich, während ich den Artikel schrieb, überholt. Und das ist in doppelter Hinsicht echt "heavy". Erstens: die Unmöglichkeit Freunde zu treffen und zweitens: die Geschwindigkeit, mit der sich diese "Naturkatastrophe in Zeitlupe" wie Herr Drosten es nannte, entwickelt hat.
Vergegenwärtigen wir uns nochmal die von Hauschild beschrieben Symptome der Angst: Wellen von Hitze und Kälte, Schweißausbrüche, Herzjagen oder Pulsverlangsamung, Unterdrückung des Atems oder Überatmung, die beide das Blut „ festbinden“, wodurch das Gehirn unterversorgt wird und um die immer gleichen Gedanken kreist bis hin zur Ohnmacht und Krämpfen, Blockade des sympathischen und parasympathisches Nervensystems, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Schreckstarre, die zu einer Depression wurde... wird ziemlich klar, dass Angst auf Dauer nicht nur ein gesundheitlicher Risikofaktor ist ( Bluthochdruck gilt als Vorerkrankung). Menschen gezielt Angst zu machen, wie ein Expertenpapier der Bundesregierung vorschlug, dass finde ich mehr als zum Kotzen. ( Kindern sollte der qualvolle Tod der Eltern vor Augen geführt werden, damit sie nicht vergessen, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen ). Auch die Rolle der Medien in dieser Krise - es sei mir hier einmal erlaubt zu sagen: zum Kotzen!
Hauschilds abschliessende These lautet: ein Rückgriff auf den Körper ( z.B. durch starken Ausdruck ) würde zeigen, wie es um uns steht und könnte befreiend sein.
Schreiben und Malen gegen Angst
In Berlin habe ich diese Botschaften gefunden: Ein Protestschreiben an eine Mauer geklebt ( zum Vergrößern anklicken), eine Tafel mit der Überschrift "von der Seele schreiben" vor der Versöhnugskirche, Streetart zum Thema Corona im Mauerpark.
Narrative gegen Angst
Wem das sich Auskotzen, Luft ablassen, Protestieren, von der Seele schreiben oder reden nur kurzfristig hilft, dem sei "Narrative" von Oval media empfohlen. Oval media produziert Dokumentarfilme ( z.B. Trust WHO) und beweist, dass es auch kluge Medienmacher gibt. In der Sendung kam bisher u.a. ein Ethnologen, Historiker, Mediziner, Fachjournalist zum Thema Impfung, ein Epidemologe, ein Anthropologe, ein Psychologe zum Thema Trauma und viele andere zu Wort. Oval media versucht zu zeigen, welche anderen Erzählungen außer denen der Leitmedien Sinn machen könnten. Außerdem sind ein Film und ein Buch zum Thema geplant und es gibt inzwischen einen Untersuchungsauschuss von einigen Juristen, deren Sitzungen ebenfalls von oval media übertragen werden.
Quellen:
Thomas Hauschild: Lebensgier. Beiträge zur Kulturgeschichte des Kotzens. S.37 – 61. In: Endstation Sehnsucht. Kapitalismus und Depression I. Alexander Verlag Berlin. 2000.
Mehr von Thomas Hauschild:
-> Zwischen Archaik, Folklore und Gewalt - Über die Funktion von Ritualen (2)
Es geht um die Finanzkrise und die Frage, mit welchen Ritualen die Gesellschaft darauf reagiert(e). Mit Ritualen der Verharmlosung, mit Ritualen der Skandalisierung oder mit Beschwichtigungsritualen. Dabei zieht der Ethnologe Thomas Hauschild Parallelen zu anderen Kulturen, u.a. Italien, der Mafia und den Ritualen der katholischen Kirche. ( SWR 2009)
"Wir sollten hier aus dem Kulturvergleich lernen, und wir sollten unsere Restrituale,
die Brauchtumspflege, die sportlichen Zeremonien, das Ehrenamt und viele andere
kulturelle Reserven ernster nehmen. Das könnte uns vor den blutigen Ritualen der
revolutionären Umverteilung des Besitzes oder vor dem Massenrausch des
kriegerischen Faschismus schützen. Ohne Dialog, ohne Hoffnung und zugleich
Nüchternheit im Umgang mit Krisenhaftigkeit, ohne den „erzwungenen Frieden“ des
Teilzwangs und der Rituale, von dem schon der großeAnthropologe Marcel Mauss
gesprochen hat, werden wir vielleicht diese Krise oder eben die nächste Krise nicht
mehr so leicht überstehen können, wie wir uns das im Moment noch vorstellen. " so endet dieser Beitrag.
Einige Stimmen aus Italien
# iorestoacasa ( # ichbleibezuhause)
In dem italienischen online - Kulturmagazin Doppiozero lese ich die Rhetorik des Krieges, hat in erster Linie den Effekt, eine Gemeinschaft gegen einen äußeren Feind zu vereinen. Der Untertitel, der den Hashtag #iorestoacasa ( Ich bleibe zuhause ) begleitet, lautet "vereint gegen den Virus". Dieser Feind wurde also in dem Virus entdeckt. Der Autor beruft sich auf die Virologin Ilaria Capua, die erklärt, nicht das Virus, sondern der Mensch ist für die Situation verantwortlich. Der Mensch ist in Lebensräume anderer Tierarten eingedrungen, lebt in dicht besiedelten Megalopolen unter schlechten Hygienebedingungen, starker Ungleichheit und Armut.(..)
# Ichbleibezuhause, denn so ist es nur fair. Aber ich bleibe auch wachsam, denn ich möchte vermeiden, dass wir nach der Gesundheitskrise in einer Art schwarzen Spiegel-Episode aufwachen, indem wir es an unserem Nachbarn auslassen, die Schwächsten nicht sehen, die Arbeiter nicht verteidigen und uns nicht um die grundlegendsten demokratischen Prinzipien scheren. Eine Folge der vierten Phase: diejenige, die wir nicht so gerne sehen, die aber immer noch einen anhaltenden Nachgeschmack von Angst und Furcht in unseren Mündern hinterlassen wird.
Giorgio Agamben: Nach Corona: Wir sind nurmehr das nackte Leben. NZZ.
18.3.2020
"Es ist offensichtlich, dass die Italiener angesichts der Gefahr, sich mit dem Coronavirus anzustecken, praktisch alles zu opfern bereit sind, die normalen Lebensbedingungen, die sozialen Beziehungen, die Arbeit, sogar die Freundschaften, die Gefühle, die religiösen und politischen Überzeugungen. Das nackte Leben – und die Angst, es zu verlieren – ist nicht etwas, was die Menschen verbindet, sondern was sie trennt und blind macht."
Witerrecherchiert: Literatur und links zum Thema
-> Coronavirus: Vergleiche sind wichtig. Wir reagieren auf Schockrisiken ganz anders als auf gewohnte und zeitlich verteilte Risiken. Wir sollten zu einer realistischen Risikoeinschätzung kommen. ( 12.3.2020, NZZ)
-> Internes Papier aus dem Innenministerium empfahl, den Deutschen Corona-Angst zu machen ( Focus, 5.4.2020) Darin wird empfohlen ( Zitat ):
Um der Bevölkerung den Ernst der Lage klarzumachen, empfehlen die Autoren drastische Maßnahmen. „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden“, schreiben die Verfasser, und nennen gleich drei konkrete Beispielszenarien.
„Das Ersticken ist für jeden Menschen eine Urangst“
Erstens würden viele Schwerkranke von ihren Angehörigen „ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen (sic) ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls.“
Zweitens empfiehlt das Papier sogar, Kindern Angst zu machen. „Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern“, heißt es in dem Text. „Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“
Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden:
1) Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.
2)"Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden": Falsch. Kinder werden sich leicht anste-
cken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.
Das ganze Papier ist hier vollständig nachzulesen: https://fragdenstaat.de/dokumente/4123-wie-wir-covid-19-unter-kontrolle-bekommen/
Weil mich dieses Papier ziemlich schockiert hat, habe ich den Artikel des Medienwissenschaftlers Michael Meyen "Die Medien - Epedemie" kommentiert und ihn nach seiner Meinung gefragt. Er schrieb bereits am 18.3.2020 : Ein Tag nach dem Lockdown in Deutschland schrieb er: "Damit sind wir bei der Verantwortung und beim Ethos des Journalismus. Was ist aus dem Ort geworden, an dem die Gesellschaft, an dem wir alle das diskutieren und aushandeln können, was uns umtreibt? Wo ist der Streit der Meinungen, der doch gerade bei existenziellen Entscheidungen wie denen, die Markus Söder am Montag verkündet hat, nötiger wäre denn je? Wann ist das Prinzip der US-Journalismus-Ikone I.F. Stone verschwunden, der seine Kollegen ermahnt hat, gerade bei mächtigen Institutionen immer besonders vorsichtig zu sein – also auch bei der Charité, auch beim Robert-Koch-Institut und erst recht bei jeder Regierung." nachzulesen mit meinen Kommentaren hier
->Die Medien-Epedemie auf dem medienblog
Der Artikel von Juli Zeh "Die Bestrafungstaktik ist bedenklich" ( einer der wenigen kritschen Stellungnahmen über Handytracking, Denunzianten und die Politik der Angst) ist bei der Süddeutschen nur gegen Bezahlung zu lesen, sei hier aber trotzdem aufgelistet. Zitat: „Wir wissen aus Erfahrung, wie gefährlich Angstmechanismen sind. Deshalb würde ich von verantwortlicher Politik und auch von verantwortlichen Medien verlangen, dass sie niemals Angst zu ihrem Werkzeug machen.“
-> einige Punkte sind hier auf dem medienblog nachzulesen
Um der Bevölkerung den Ernst der Lage klarzumachen, empfehlen die Autoren drastische Maßnahmen. „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden“, schreiben die Verfasser, und nennen gleich drei konkrete Beispielszenarien.
„Das Ersticken ist für jeden Menschen eine Urangst“
Erstens würden viele Schwerkranke von ihren Angehörigen „ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen (sic) ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls.“
Zweitens empfiehlt das Papier sogar, Kindern Angst zu machen. „Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern“, heißt es in dem Text. „Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“
Klaus Theweleit: Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell. 2002. Klaus Theweleit geht auf die Suche nach
der verlorenen Realität in Texten u.a. von Georg Seeslen, Slavoij Zizek, Elisabeth Bronfen u.a. - verfasst als Kommentare zum 11. September. Er macht das mit messerscharfem Verstand und soviel
trockenem Humor, dass ich mir vor Lachen den Buch halten musste. Humor hilft auch gegen Angst.
Am 27. Februar 2020 veröffentlichte Die Zeit einen Artikel von Theweleit zur "damals" laut Innenminister größten Gefahr in Deutschland, dem Rechtsterrorismus. -> Zu wenig Körperkontakt. ( die Überschrift liest sich jetzt merkwürdig anders )
Byung-Chul Han: „Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart.“ Berlin. 2019.
-> Rezension dazu im Deutschandfunk
-> Byung-Chul Han zu Corona: „Vernunft nicht dem Virus überlassen“ ( Die Welt, 23.3.2020 ) Das Virus macht den Tod wieder so sichtbar, den wir ins Unsichtbare verbannt zu haben glaubten. Angesichts der drohenden Gefahr des Todes opfern wir bereitwillig alles, was das Leben doch lebenswert macht. (...) Dem Kampf ums Überleben ist die Sorge ums gute Leben entgegenzusetzen. Sonst wird das Leben nach der Epidemie mehr Überleben als vor der Epidemie. Dann gleichen wir selbst dem Virus, diesem untoten Wesen, das sich nur vermehrt, nur überlebt, ohne zu leben.
Das Schild mit der Inschrift von Bazon Brock habe ich vor Jahren in Berlin entdeckt. Brock schrieb es aus Anlass des Todes von Siegfried Kracauer und es lautet ausführlicher:
" der Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter an der Solidarität aller Menschen gegen den Tod. Wer sich hinreißen lässt aus noch so verständlichen Gründen, aus Anlass des Todes … ein rührendes Wort zu sprechen, eine Erklärung anzubieten, die Taten aufzuwiegen, die Existenz als erfüllte zu beschreiben, der entehrt ihn, lässt ihn nicht besser als die Mörder in die Kadaververwertungsanstalt abschleppen. Wer den Firlefanz, die Verschleierungen, die Riten der Feierlichkeit an Grabstätten mitmacht, ohne die Schamanen zu ohrfeigen, dürfte ohne Erinnerungen leben und sich gleich mit einpacken lassen. "
Ich habe jetzt begonnen mit der Recherche von Vereinen, Initiativen, Organisationen in Apulien und Italien, die sich für Gemeinwohl, Solidarität, Umwelt und Kultur einsetzten, u.a. -> Italia che cambia (Italien im Wandel), -> Diritti a Sud, Fuorimercato, Sfruttazero. Wer ähnliche Organisationen kennt, bitte schreibt mir über die Adresse im Impressum. Ich bin für Hinweise sehr dankbar.
Grüße aus Apulien an mich während des lockdowns. Grazie mille!