Wenn ich in Apulien mit Menschen über Politik redete, hieß es oft: "Deutschland ist stark, gute Ingenieure, gute Autos, starke Wirtschaft." Nicht selten verbarg sich dahinter eine höfliche Kritik daran, dass Deutschland dem Süden Europas seine Wirtschaftspolitik und damit seine Lebensweise aufdrückt.
Jedesmal wenn ich im Fernsehen einen Reisebericht über Süd- Italien oder andere Länder im Südosten Europas sehe, wird im Grunde die gleiche traurige Geschichte erzählt. Die Menschen können vom Fischfang oder der Landwirtschaft nicht mehr leben. Die Menschen sind arm, aber dabei so wahnsinnig entspannt, heißt es. Die Fischerboote werden in Touristenboote verwandelt. Die gut ausgebildete Jugend sucht ihr Glück im Norden oder versucht es mit neuen Ideen für den Tourismus: z.B. als Schuhputzer in Sizilien. In den letzten Jahren sind sogar diese in Ansätzen "kritischer" Reportagen verschwunden, zugunsten von Berichten über mediterrane Küche oder ökologische Themen.
Als die Idee von Europa zu kriseln begann und die Angst vor Nationalismus größer wurde, meldeten sich einige Intellektuelle und Journalisten in den Kultursendern zu Wort und sprachen davon, dass Europa eine gemeinsame Erzählung oder einen Mythos brauche. Aber welches Europa? Für Albert Camus war der Süden Europas ein Gegengift zum Norden Europas, das seinen Schönheitssinn der Maßlosigkeit geopfert hat. Iris Radisch urteilt wie viele andere, die Camus Geschichtsvergessenheit vorwarfen, sein Süden ist ein Mythos. In ihrer Camus Biographie meint sie allerdings, die Mittelmeerutopie sei die vielleicht letzte verbliebene Utopie des 21. Jahrhundert.
Franco Cassanos Buch „Der südliche Gedanke“ (1996) war ein Versuch, Camus` Mittelmeerutopie wiederzubeleben. Was der Süden Italiens trotz aller Unterschiede mit Afrika, Asien, der Karibik und Lateinamerika gemeinsam hat, ist dass sie an der Peripherie der Nordatlantischen Kultur liegen und dass sie das Andere des Westens sind. Es sind Quellen anderer Archive an Werten und Traditionen wie Langsamkeit, Kontemplation, Geselligkeit und Gastlichkeit. Mediterrane Formen von Austausch, Hybridität und Pluralität sieht Cassano als Formen des Widerstands zu den Exzessen des Kapitalismus. Er fordert einen autonomen Weg in die Moderne nicht nur für den Süden Italiens oder die Mittelmeerregion, sondern den globalen Süden, dessen Kraft und Würde er wiederherstellen möchte. Man kann es als eine Rückkehr zu Europas mediterranen Wurzeln lesen, als Wiederentdeckung eines Raums, der totalisierenden Visionen von Kultur, Religion, Ethnie und Wirtschaft Widerstand geleistet hat.
„Ich habe 2 Jahre in Rom verbracht und da nie die Art von Cosmopolitanismus auf allen Ebenen der Gesellschaft beobachtet wie in zwei Tagen im Salento.“ meint der apulische Filmemacher Edoardo Winspeare in einem Interview mit der N.Y. Times. Was den Salento aus seiner Sicht einzigartig macht, ist die lebendige Präsenz seiner Geschichte: von den Bewohnern, den gegensätzliche Phenotypen Nordafrikas und Nordeuropas bis zum griechischen Dialekt, der noch heute in einigen Dörfern des Salento gesprochen wird. ‘‘Zeni sù en ise ettù sti Kalimera,’’ (Du bist kein Fremder in Kalimera) steht auf einer griechischen Statue in Calimera, dem Zentrum der Griko, wo der griechische Dialekt noch heute gesprochen wird.
-> mehr über die Filme von Edoardo Winspeare
Die Inspiration für "Das Meer und Apulien" kam zunächst durch die Sendung -> "Eine lange Nacht über das Mittelmeer" (Deutschlandfunk vom 5.11.2016), die mit diesen Worten eingeleitet wurde:
"In einer Zeit, in der Europa in einer Identitätskrise steckt, an Amnesie leidet, da lädt das Mittelmeer zu einer anderen Art der Geschichtsschreibung ein – Europa neu zu denken, von seinem Ursprung, vom Süden her."
Für die Sendung "Europäisches Handgepäck" bereiste Mathias Greffrath 2018 Europa auf der Suche nach dem gemeinsamen kulturellen Erbe und dem, was die Europäer einen könnte. Sein Fazit ist, dass die Begeisterung für Europa als kultureller und politischer Raum im Wesentlichen eine Angelegenheit von Intellektuellen ist. In Italien war Greffrath zwar nicht, aber in Portugal - wo ihm, wie er sagt, das politische Herz aufging. Wie Italien wurde Portugal und der europäischen Süden von der Wirtschaftskrise 2008 besonders hart getroffen und leidet noch heute darunter. In Portugal begegnete Greffrath der Ökonomin Mariana Mortagua und dem Schriftsteller Rui Zink. Rui Zink meint, es fließt nur dann Geld in diese Länder, wenn sie billiger bleiben, und möglichst demütig.
->Europäisches Handgepäck/ Nelken im Klostergarten (Deutschlandfunk)
Dem Süden Italiens geht es nicht besser. Demütigung hat hier fast schon Tradition. Von den Norditalienern werden Süditaliener gerne als terroni (Erdfresser) beschimpft. Bis heute wird Süditalien oft mit dem düsteren Mittelalter assoziiert und als antimoderner Dämon, Wüste der Zivilisation, Sumpf der Korruption und des Verbrechens, Ort unverbesserlicher Armut und des Elends dargestellt. Das 9000 Jahre alte Matera ist in diesem Jahr eine der beiden Kulturhauptstädte Europas. In kaum einem Artikel über Matera fehlt das Schlagwort Elend oder Schande. Für das kulturelle Programm interessiert sich dagegen kaum ein Journalist. Dabei wäre das doch eine Chance für eine Perspektivwechsel. Zum Beispiel die Sektion Utopien und Dystopien: Ausgehend von dem utopischen Spannungsfeld der Geschichte Materas geht es bei diesem Thema darum, Wege zu finden, die Vorurteile über die Städte des Südens in Frage stellen, z.B. dass Tourismus der einzige Weg ist, um ökonomische Stabilität zu erreichen, dass Technik das einzige Modell der Vermittlung von Beziehungen ist, industrielle Monokultur die einzige Möglichkeit für Entwicklung und Essen und Wein das wesentliche Identifikationsmoment der Region sind.
-> Matera 2019/ offizielles Programm (englisch)
-> Überblick über das Programm auf diesem Blog (deutsch)
Süditalien ( Großgriechenland ) war 500 Jahrhunderte lang das brillianteste Zentrum der griechischen Zivilisation und ist bis heute die am besten
bekannte Region dieser antiken Kultur. Von der Antike bis ins späte Mittelalter war Süditalien noch Vorbild für Europa. Multikulturalität, religiöse Toleranz und der Handel blühten. Traditionen
des römischen und griechischen Imperiums ( Magna Graecia) wurden unter den Sarazenen fortgesetzt. Selbst die für ihre Grausamkeit berüchtigten Normannen verwandelten sich in weitsichtige,
tolerante Herrscher. Das änderte sich erst nach der Eroberung durch Franzosen und Spanier sowie die Einführung des Feudalsystems, die die Region jahrhundertelang schröpfte.
Europa als Kreuzpunkt der Kulturen thematisierte auch die Wander-Biennale "Manifesta 12", die 2018 in Palermo zu Gast war. Der Bürgermeister, Leoluca Orlando, antworte auf die Frage, wieviele Migranten nach Palermo gekommen sind: "Keiner! Wer nach Palermo kommt, wird Palermitaner."
Für Franco Cassano beginnt der südliche Gedanke an den Küsten Griechenlands mit der Öffnung der griechischen Kultur und zum Dialog. Die Gefahr des Fundamentalismus existiert nach Cassano nicht nur in Form von Selbstmordattentätern, sondern auch in der Form eines aktiven Eurozentrismus, der die eigenen Prinzipien exportiert und die Andersartigkeit des Anderen auslöscht. Das Mediterrane Denken dagegen sieht er als eine entmilitarisierte Lesart der eigenen Tradition, die in anderen Traditionen ebenfalls neue Lesarten hervorbringen kann. Hier findet ihr eine Zusammenfassung der wichtigsten Thesen seines Buches - >"Il pensiero meridiano" ( Der Südliche Gedanke, 1996 ), das bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde.
Der griechische Mythos von Europa wird im wesentlichen so erzählt, dass Göttervater Zeus (lat.: Iuppiter) ein begehrliches Auge auf Europa warf und sich ihr in Gestalt eines weißen Stiers näherte. Von der Schönheit und Sanftheit des Stiers eingenommen, setzte Europa sich auf seinen Rücken. Zeus erhob sich und entführte Europa nach Kreta, um mit ihr Kinder zu zeugen. Bei Ihrer späteren Flucht allerdings verlor Europa den Halt und stürzte in den Tod. Aus Gram über ihren Tod nannte Zeus den Kontinent Europa, um sich ihrer ewig zu erinnern. Europa und ihre Nachkommen bezeugen die Verbindung der Völker. Griechen, Kreter, Phönizier und Ägypter, die sich ums Mittelmeer gruppieren, werden in dem Sagenstoff von Europas Familie, die den Mittelmeerraum durchreist und besiedelt, als eine von Vielfalt geprägte kulturelle Einheit gesehen.