"Hirondelle, (...)

  "Ich brauche das gleiche wie Du. Luft und Freiheit."

                                                                   Luise Michel ( 1830 -1905)

 

Graeber, Wengrow, Kondiaronk: Anfänge - eine Anthropologie der Freiheit

Neue Erkenntnisse in der anthropologischen und archäologischen Forschung zeigen, dass die Geschichte der Menschheit umgeschrieben werden muss. Zu diesem Schluss kommen David Graeber, einer der renommiertesten Anthropologen weltweit, und der Archäologe David Wengrow in ihrem Buch "Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit".

 

Die Arbeit an ihrem Buch begann mit der Frage: was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen? Seit dem Finanzcrash 2008 wurde viel über Ungleichheit diskutiert. Selbst beim WEF in Davos ist globale Ungleichheit seit 2008 regelmäßig ein Spitzenthema gewesen. Scheinbar gibt es einen allgemeinen Konsens darüber, dass die soziale Ungleichheit irgendwie außer Kontrolle geraten ist.  Eng verbunden mit dem Ursprung der Ungleichheit sind Fragen nach dem Wesen des Menschen.  Ist der Mensch im Grunde gut oder ist der Mensch dem Menschen - ein Wolf mit den entsprechenden politischen Konsequenzen. Aus mehreren Gründen stellten Graeber und Wengrow fest, dass die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit in eine Sackgasse führt und dass andere Fragen wichtiger sein könnten. Welche könnten das sein? Der Durchbruch gelang, als sie sich entschlossen, sich von europäischen Denkern wie J.J. Rousseau zu lösen und stattdessen die Perspektive indigener Amerikaner zu betrachten, die die Denker der Aufklärung inspiriert hatten. Die Schlüsselfrage für Graeber und Wengrow lautet: wie und warum sind wir steckengeblieben in einer einzigen Form sozialer Realität und warum sind Beziehungen, die auf Herrschaft und Gewalt beruhen, in dieser Realität normal geworden ?  Eine Antwort lautet: durch die enge Verknüpfung / Verwechslung von Fürsorge und Gewalt.

 

Wie indigene Kritik die französische Aufklärung inspirierte

Paris 1989, Assamblee National, 200 Jahre fanzösische Revolution
Paris 1989, Assamblee National, 200 Jahre fanzösische Revolution

 

 

Die Ideen der französischen Aufklärung wurden nicht allein dadurch geboren, dass geniale Denker in ihren Kämmerchen darüber nachdachten, was mit der Gesellschaft nicht stimmen könnte. Wovon wurden sie inspiriert? Als europäische Händler, Missionare und Siedler in die neue Welt gingen, führten sie dort lange Gespräche mit den Menschen, denen sie dort begegneten. Reiseliteratur und Missionarsberichte wurden im 18.Jahrhundert zu wichtigen Literaturgenres, sodass die Gespräche mit indigenen Intellektuellen sich auch in Europa verbreiteten und letztlich einen Systemschock auslösten.Es war der Kontakt mit nordamerikanischen Ureinwohnern und ihren Staatsmännern wie Kondiaronk Häuptling der Wendat, der im 18.Jahrhundert enormen Einfluss auf Persönlichkeiten der französischen Aufklärung ausübte und Fragen nach Geld, Glaube, erblicher Macht, Frauenrechten, persönlicher Freiheit und Gleichheit aufwarf.

 

Zunächst richtete sich die indigene Kritik vor allem gegen die mangelnde Freiheit der Franzosen, erst später gegen die Ungleichheit. So fällt bei der Lektüre von 71 Berichten der Jesuiten auf, dass das Thema Gleichheit gar keine Rolle spielte. Beim Thema Freiheit waren sich die Jesuiten und die Indigenen einig, dass indigene Gesellschaften wesentlich freier waren, uneinig waren sie darüber , ob diese Freiheit erstrebenswert sei oder nicht. Die Montagnais- Naskapi meinten, die Franzosen lebten nicht viel besser als Sklaven, weil sie ständig Angst vor ihren Vorgesetzten hatten.

 

Der Jesuitenpater J. Lalemont ( 1593-1673) beschrieb die Wendat, eine indianische Stammesgruppe im heutigen Kanada ( damals Neufrankreich) so:

 

"Ich glaube es gibt auf der Welt keine freieren Menschen als sie, weniger bereit ihren Willen welcher Macht auch immer zu unterwerfen – so sehr, dass Väter hier keine Gewalt über ihre Kinder haben oder Hauptleute über ihre Untergebenen oder die Gesetzte des Landes über einen jeden von ihnen, außer wenn es dem Einzelnen gefällt sie zu befolgen.Es gibt keine Strafe, die dem Schuldigen auferlegt wird, und keinen Verbrecher, der sich nicht gewiss ist, dass sein Leben und sein Besitz nicht in Gefahr sind.. „

 

Die Jesuiten waren empört, denn die „sündhafte“ Freiheit, stellte für sie das größte Hindernis dar, die Indigenen dem Gesetzt Gottes zu unterwerfen. Der Jesuitenpater Le Jeune gab in den 1630er Jahren immerhin zu: „Fast keiner von ihnen, der nicht in der Lage wäre, in Wissensangelegenheiten in passenden Begriffen äußerst geschickt zu sprechen und zu argumentieren. Die Räte, die fast täglich und zu allen Fragen in den Dörfern einberufen werden, verbessern ihre Redegewandtheit.“

 

 

Dialog zwischen Kondiaronk und Baron de Lahontan

 

Baron de Lahontan war ein französischer Offizier und Reisender, der sich 1683 in die französischen Kolonien in Nordamerika aufmachte. 1704 erschien eine Schrift mit dem Titel „Dialoge von Monsieur Le Baron de Lahontan und eines Wilden in Amerika...“.

Kondiaronk (* 1649; † 1701), war Häuptling der Wendat. In den Aufzeichnungen von Baron de Lahontan wird eine sehr kritische Sicht des Häuptlings auf die europäische Gesellschaft deutlich. Lange wurden diese Gespräche als fiktiv betrachtet, weil man den Indigenen eine solche Argumentation nicht zutraute. Erst durch indigene Wissenschaftler änderte sich diese Sichtweise in den letzten Jahren.

 

Lahontan: „Sie finden es unverantwortlich, dass ein Mensch mehr als ein anderer besitzen sollte und dass die Reichen mehr Respekt verdienen sollten als die Armen. Kurz, sie sagen, die Bezeichnung Wilde, die wir Ihnen geben, treffe besser auf uns zu, da in unseren Handlungen nichts erkennbar sei, das auf Weisheit schließen lasse?“

 

Kondiaronk: „Ich habe nun sechs Jahre damit zugebracht, über die europäische Gesellschaft nachzudenken und so wie sie sich verhalten, kann ich nicht an eine einzige Sache denken, die nicht unmenschlich wäre. Und dies wird weiterhin der Fall sein, solange sie nicht aufhören, einen Unterschied zu machen zwischen „meins“ und „deins“. Was für eine Art von Menschen müssen die EUROPÄER sein? Welcher Art von Geschöpfen gehören sie an? Die EUROPÄER, die gezwungen werden müssen, das Gute zu tun, und die keinen anderen Antrieb haben, das Böse zu vermeiden, als die Furcht vor Strafe.

 

Lahontan: „Versuche einmal in deinem Leben, ernsthaft zuzuhören. Kannst du nicht begreifen, teurer Freund, dass die Völker Europas ohne Gold und Silber - oder ein ähnliches kostbares Symbol - nicht bestehen könnten? Adlige, Priester, Kaufleute und alle möglichen anderen, denen es an der Kraft mangelt, den Boden zu bestellen, würden sonst schlicht Hungers sterben. Unsere Könige wären keine Könige; welche Soldaten hätten wir? Wer würde für Könige oder sonst irgendjemanden arbeiten? Europa würde ins Chaos stürzen, und die schlimmste Verwirrung, die man sich nur vorstellen kann, würde entstehen.“

 

Kondiaronk: „Glaubst du ernsthaft, du könntest mich überzeugen, indem du die Bedürfnisse von Adligen, Kaufleuten und Priestern anführst? Wenn du die Vorstellung von Mein und Dein ablegtest, ja, dann würden solche Unterscheidungen zwischen den Menschen verschwinden; eine allgemeine Gleichheit würde unter den Deinen herrschen, wie sie jetzt bei den Wendat besteht. Freilich würde in den ersten dreißig Jahren nach dem Verbot der Selbstsucht eine gewisse Verwüstung eintreten, da diejenigen, die nichts anderes als essen, trinken, schlafen und sich vergnügen können, ermatten und sterben würden. Ihre Nachkommen indes wären für unsere Lebensweise geeignet.“

 

Die Gesellschaft der Wendat war keine vollkommen egalitäre Gesellschaft. Wohlhabende Wendat-Männer horteten wertvolle Dinge wie Perlenketten und – gürtel und verteilten diese Schätze publikumswirksam, weil sie sie beim Streben um ein politisches Amt nutzen konnten. Aber weder Landbesitz noch landwirtschaftliche Produkte oder andere wertvolle Dinge ließen sich in die Macht umwandeln, andere dazu zu bewegen, etwas zu tun, das sie nicht tun wollten. Kein Inhaber eines politischen Amtes hatte die Macht, anderen Befehle zu geben. Was indigene Staatsmänner wie Kondiaronk irritierte, war die Beobachtung, dass Europäer Reichtum in Macht verwandeln. Wie kann die ungleiche Verteilung von Gütern dazu führen, anderen zu sagen, was sie zu tun haben?

 

Aus indigener amerikanischer Sicht beruht die Freiheit des Einzelnen auf einem gewissen Maß an "Basiskommunismus". Sie waren überzeugt, dass ein Mensch der nichts zu essen oder kein Obdach hat, auch keine große Handlungsfreiheiten haben kann. Insofern über „Kommunismus“ gesprochen wird, ist wichtig zu betonen, dass er nicht als Gegenteil, sondern als Voraussetzung von individueller Freiheit existierte.

 

Lahontans Bücher waren in Europa ein großer Erfolg. Sie wurden ins Deutsche, Holländische, Englische und Italienische übersetzt und blieben über hundert Jahre im Druck.

 

Rousseau und der Mythos vom Sündenfall der Menschheit

 

Rousseau ist im Gegensatz zu anderen französischen Denkern nie mit Indigenen direkt in Kontakt gewesen. Seine "Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen" ist ein reines Gedankenspiel. Darin beschreibt er den bis heute weit verbreiteten Mythos vom Sündenfall der Menschheit, der einst unschuldig in einem Paradies lebte, das in dem Moment endete, als der Mensch sich der Landwirtschaft zuwandte. Als der erste Mensch einen Zaun um ein Stück Land zog und behauptete: "Das gehört mir."  entstand erstmals Privatbesitz, dann die rechtlichen Strukturen, um Eigentum zu schützen, dann Regierungen, um entsprechende Gesetze durchzusetzen. Es war Jean Jacques Rousseau, der den Mythos in die Welt brachte, ursprünglich sei der Mensch unschuldig und gut gewesen, erst die Zivilisation habe ihn verdorben. Er hielt "die Wilden" für unschuldig aber naiv,  nicht in der Lage, bewusste Entscheidungen zu treffen. Nach dieser Version der Menschheitsgeschichte gibt es keinen Ausweg aus der Misere der Menschheit, weil wir aufgrund der Überbevölkerung nicht zu einem Leben in kleinen Gruppen und ohne Eigentum zurückkehren können. Bis heute gehört zu diesem Mythos, dass Zivilisation und Komplexität immer zu Lasten menschlicher Freiheit gehen muss, dass partizipatorische Demokratie nur in kleinen Gruppen, nicht aber in großen Städten oder gar Staaten funktionieren kann.

 

 

Die Abwertung der "Wilden" und des frühen Menschen

 

In der Diskussion über Ungleichheit und Freiheit, drehte der französische Ökonom Jacques Turgot den Spieß schließlich sogar um. „Uns allen gefällt die Vorstellung von Freiheit und Gleichheit, gab er zu, aber Freiheit und Gleichheit von „Wilden“ sei kein Zeichen ihrer Überlegenheit. Er argumentierte, die Tatsache, dass die Indigenen in einer vergleichsweise egalitären, freien Gesellschaft lebten, sei der Beweis dafür, dass sie zurückgeblieben waren. Technischer Fortschritt sei die Triebfeder gesamtgesellschaftlicher Verbesserung. In komplexen Zivilisationen seien Armut und Besitzlosigkeit einiger weniger zwar bedauerlich, aber eine notwendige Bedingung für den Wohlstand der ganzen Gesellschaft. Turgot ´s Denken zeigt , dass Begriffe wie Zivilisation, Fortschritt und Evolution sich als Reaktion auf die Wucht indigener Kritik entwickelten, um den Glauben an europäische Überlegenheit zu wahren. Seine Sichtweise beeinflusste Adam Smith, Lord Kames , John Millar und ist bis heute Grundlage für moderne Sichtweisen gesellschaftlicher Evolution. Diese Version der Menschheitsgeschichte sieht den Menschen von Anfang an als gewalttätig, egoistisch und böse. " Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf." Aus dieser Sicht, die Thomas Hobbes u.a.teilen, muss der Staat für Ordnung sorgen.  Fortschritt und Zivilisation selbst sind die Erlösung, weil sie besonders Menschen der westlichen Welt glücklicher, reicher und sicherer macht - eine Sicht die besonders bei Milliardären beliebt ist.

 

Weder Turgot noch Rousseau trauten den "Wilden" zu, über verschiedene Richtungen nachzudenken, die eine Gesellschaft einschlagen könnte. Angehörigen primitiver Völker wurde allenfalls eine prälogische Mentalität zugetraut, sie konnten nicht kritisch denken und lebten in einer mythologischen Traumwelt. Bis heute wird diese Perspektive von vielen Historikern geteilt. In diesem Zusammenhang kritisieren Graeber und Wengrow auch Yuval Noah Harari, der in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menscheit“ ( 2014) die Jäger und Sammler der Eiszeit mit Horden von Affen vergleicht: „Vermutlich gab es auch hier Unterschiede zwischen den verschiedenen Horden. Manche waren vielleicht so hierarchisch , aggressiv und gewalttätig wie die schlimmste Schimpansengruppe und andere so entspannt, friedlich und lüstern wie ein Haufen Bononbos.“

 

Die politischen Konsequenzen einer Sichtweise, in der der Mensch dem Mensch ein Wolf ist, impliziert, dass Freiheit etwas Gefährliches ist. Die Theorie von den zurückgeblieben "Wilden" führte etwa hundert Jahre später zusammen mit Darwins Evolutionstheorie zu der Ansicht, minderwertige Rassen sollten ausgerottet werden.

 

Drei Gundlagen der Freiheit

 

Die Freiheiten, auf denen Nationen wie die USA heute moralisch beruhen, sind zum großen Teil formale Freiheiten, wie z.B. das Recht zu reisen, wohin man will ( vorausgesetzt man hat das Geld für Transport und Unterkunft ) oder die Freiheit, seinem Vorgesetzten zu widersprechen ( es sei denn man braucht den Job). Vergleichsweise egalitären Völkern wie den Wendat, Hazda oder Nuern dagegen ging es weniger um formale als um substanzielle Freiheit. Das Recht zu reisen war weniger interessant als die Möglichkeit zu reisen. Infolgedessen gab es die Pflicht, Fremden Gastwirtschaft zu gewähren. Gegenseitige Hilfe war eine fundamentale Bedingung für persönliche Autonomie.

 

Das Vorstellungsvermögen, wie eine Gesellschaft aussieht, wenn man anders handelt, ist für Graeber und Wengrow die Essenz politischen Denkens. Über verschiedene Richtungen nachzudenken, die eine Gesellschaft einschlagen könnte und Argumente zu formulieren, warum sie sich wofür entscheiden sollte, machen den Mensch als politisches Wesen aus. Menschen haben im Laufe der Geschichte zahlreiche soziale Arrangements ausprobiert. Von diesen Arrangements rund um den Globus erzählt das Buch auf über 500 Seiten. Aufgrund ihrer Recherchen formulieren die Autoren drei Grundlagen von Freiheit :

 

1. Die Freiheit, wegzugehen. Wie stark die Macht eines Häuptlings oder Königs war, hing in starkem Mass davon ab, ob seine Schutzbefohlenen weglaufen konnten oder nicht.  Der Zusammenbruch der Freiheit wegzugehen führte in der Regel auch zum Zusammenbruch der Freiheit, Befehle zu verweigern. Daher sind Gastfreundschaft und Asylrecht nicht zu unterschätzende Werte.

2. Die Freiheit, Befehle zu verweigern.

3. Die Freiheit, andere soziale Beziehungen zu organisieren.

 

Kondiaronk und die Wendat sind nicht die Hauptakteure des Buches. Allerdings wird am Beispiel der Wendat am Ende des Buches eine Schlüsselfrage formuliert. Die Wendat waren durchaus kriegerisch und ihre Kriegsgefangen wurden entweder adoptiert oder auf grausame Weise zu Tode gefoltert. Nie aber wendeten sie Gewalt innerhalb der eigenen Gesellschaft an. Als Indigene nach Europa kamen und sahen, dass in Frankreich Gewalt gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wurde, waren sie überaus schockiert. Hier kommen Graeber und Wengrow zurück zur Schlüsselfrage : wie und warum sind wir heute steckengeblieben in einer einzigen Form sozialer Realität und warum sind Beziehungen, die auf Herrschaft und Gewalt beruhen, in dieser Realität normal geworden ?  Eine Antwort lautet: durch die enge Verknüpfung / Verwechslung von Fürsorge und Gewalt.

 

Grundlagen sozialer Macht

 

Wie es die väterliche Pflicht des Vaters ist, für die Ernährung, Erziehung und tugendhafte Leitung seiner Kinder zu sorgen, so ist auch der König verpflichtet, für alle seine Untertanen zu sorgen... Wie der Zorn und die Zurechtweisung des Vaters gegen jedes seiner Kinder, das sich vergeht, eine väterliche durch Mitleid gemilderte Züchtigung sein sollen, solange noch irgendeine Hoffnung auf Besserung bei ihnen besteht, so soll auch der König gegen jeden seiner Untertanen, der sich vergeht , auf diese Weise handeln....“Jakob I von England ( The true law of free monarchys) 

 

Bei den Römern, im Ancien Regime in Frankreich, in den Palästen in Ägypten, bei den Azteken und den Inkas: überall war Herrschaft auf das Engste mit Fürsorge verbunden. Es gab Bindungen durch Gewalt und Fürsorge nach oben und nach unten. In Europa zeigt sich diese Entwicklung im römischen Recht. Der römische Haushaltsvorstand "pater familias" konnte mit seinem Eigentum, zu dem auch Kinder, Sklaven und Frauen gehörten, machen, was er wollte. Bis heute ist die europäische Vorstellung von Freiheit untrennbar mit dem Begriff des Privateigentums verknüpft.

 

Das weltweit erste bekannte Beispiel für das, was wir heute unter Staatenbildung verstehen ist Ägypten zur Zeit der Pharaonen. Ägypten gilt deshalb als erster echter Staat und Muster für alle weiteren Staaten, weil die Ägypter absolute Souveränität ( ungestraft und willkürlich Gewalt anzuwenden) mit Bürokratie kombinierten, die alle Untertanen unter dem Vorwand der Fürsorge zu Rädchen einer großen Maschine machte. Es war die Aufgabe des Volkes, für einen gottähnlichen Herrscher zu sorgen. Verantwortlich dafür war u.a. ein Wechsel in den Jenseitsvorstellungen verbunden mit der Frage, welche Verantwortung die Lebenden gegenüber den Toten hatten: Benötigen auch tote Könige Fürsorge, könnten die Ahnen im Grab Hunger haben und was würden sie essen? Pyramidenbau wurde in Ägypten zu einer staatlichen Angelegenheit , ähnlich wie bei den Inkas. Im Kontext des sich entwickelnden Staates kam es auch zu rituellen Massentötungen. Geopfert wurden nach dem Tod des Königs auch, diejenigen die während seines Lebens für ihn gesorgt hatten: Ehefrauen, Wachen, Beamte, Köche, Stallknechte und Palastzwerge. Aus Liebe und Fürsorge musste der königliche Haushalt dem König ins Grab folgen bzw. wurde in Nebengräbern bestattet.

 

Der Weizenanbau wurde intensiviert, weil man glaubte die Toten benötigten Brot und Weizenbier. Da ein großer Teil der Bevölkerung nicht die Ressourcen hatte, den nötigen Weizen anzubauen, gerieten die Untertanen durch Schulden in Abhängigkeiten und es bildeten sich schnell Klassenunterschiede. Auch um die Arbeiter beim Bau der Pyramiden zu versorgen wurden Bier und Brot in Mengen von industriellem Ausmass produziert. Auch die Arbeiter wurden vorübergehend während der Bauarbeiten zu Verwandten des Königs und mussten gut versorgt werden. Ähnlich wie während der industriellen Revolution kam es beim Bau der Pyramiden es zur Arbeitsteilung: viel Aufgaben wurden in sich wiederholende Arbeitsschritte unterteilt: schneiden, ziehen, heben ect. Die Untertanen wurden in eine soziale Maschine verwandelt.

 

Ist der Staat also eine Kombination aus Gewalt und sozialer Maschine, die angeblich der Fürsorge dient? Pharaonen und Inkareich zeigen, was passiert wenn sich ein Souveränitätsprinzip mit Hilfe der Bürokratie ausweitet: breit angelegte regionale Herrschaftssysteme werden unter einer einzigen Regierung vereint. Aber die meisten frühen Staaten sahen anders aus ( z.B. in Mesopotamien, bei den Mayas, in China). Allen gemeinsam ist nur, dass sich ihre Führungen spektakulären Formen der Gewalt bedienten und sich an patriarchalischen Gesellschaftsordnungen orientierten. Max Weber bezeichnete Herrschaftsformen, in denen Untertanen als Mitglieder des königlichen Haushalts gelten, wenn sie mit seiner Fürsorge beschäftigt sind als Patrimonialismus, als Rituale, die Verwandtschaft erzeugen. Sie sind geeignet Königreiche und Staaten zu erschaffen und zu festigen.

 

Grundlagen sozialer Macht

 

1. Gewaltandrohung

2. Informationskontrolle ( Bürokratie , Verwaltung )

3. heroische Politik charismatischer Oberhäupter

 

Während Herrschaften erster Ordnung (Olmeken, Chavin oder Natchez) nur ein Prinzip zur Ausübung von Macht entwickelten, lassen sich alle frühen Staaten als Herrschaften zweiter Ordnung beschrieben: die Ägypter kombinierten Gewaltandrohung mit Verwaltung, mesopotamische Könige kombinierten Verwaltung mit heroischer Politik, die klassischen Maja und Ajaw heroische Politik mit Gewaltandrohung. Das dritte Prinzip war in diesen Staaten nie völlig abwesend, aber nicht so stark ausgeprägt wie die beiden ersten.

 

Diese drei Prinzipien sind auch heute noch Grundlagen von Institutionen, die maßgeblich sind für moderne Staaten. Wenn das erste Prinzip ( Gewalt ) mit dem zweiten Prinzip (Bürokratie ) verbunden ist, macht das totalitäre Regime möglich. Wenn Regierungen und ihre Vertreter darauf bestehen, dass Regeln Regeln sind und alles andere nicht interessiert, werden bürokratische Mechanismen monströs.

 

Aktuelle Umfrage des Rheingold Instituts: Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit

 

56 Prozent* der Befragten stimmen der Aussage zu: »Wenn ich die Entwicklung der Politik und gesellschaftlichen Stimmungen in Deutschland so betrachte, würde ich am liebsten auswandern.

 

Die fünf Themen, die von den 18-65-Jährigen als besonders dringlich wahrgenommen werden, sind vor allem jene, die sich am unmittelbarsten auf das persönliche Leben auswirken: Inflation (51 Prozent), Altersarmut (46 Prozent), Klimawandel (43 Prozent), bezahlbarer Wohnraum (41 Prozent) und die Energiekrise (41 Prozent).

 

Drei Viertel der 18-65-Jährigen (73 Prozent*) haben das Gefühl, »dass unsere Politiker keine Ahnung haben von dem, was sie tun«

 

34 Prozent* vertrauen der Regierung

 

68 Prozent* ziehen sich mehr zurück und mögen es, ihre Ruhe zu haben.

 

Im Rahmen der qualitativen Zukunfts-Studie wurden jeweils 35 Proband*innen in zweistündigen psychologischen Tiefeninterviews befragt. Bei der Auswahl der Proband*innen wird darauf geachtet, dass politische Präferenzen und soziodemographische Strukturen (Geschlechter, regionale Verteilung, Altersverteilung, Bildung und Beruf) möglichst genau abgebildet werden. Untermauert wurden die Erkenntnisse durch eine quantitative Online-Befragung der 18-65-jährigen Bevölkerung (Bevölkerungsrepräsentative Stichprobe nach Alter, Geschlecht und Bundesland, n = 1.000).

 

Quelle: https://www.rheingold-marktforschung.de/gesellschaft/deutschland-auf-der-flucht-vor-der-wirklichkeit/

 

veröffentlicht am 27. Juli 2023

 

David-Graeber-Institut und Webseite

 

David Graeber verstarb im September 2020. Er war einer der bedeutendsten Anthroposophen der Gegenwart, Mitbegünder und Akitvist der occupy Bewegung, Autor von Bestsellern wie Schulden - die ersten 5000 Jahre , Bürokratie - die Utopie der Regeln oder Bullshit Jobs und Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit. Für das Buch Anfänge - eine neue Geschichte der Menschheit , das er im August 2020 zusammen mit David Wengrow beendete, waren mehr als drei Fortsetzungen geplant, die es nicht mehr geben wird.

 

 

 

Wir sind der Meinung, dass sich ein neues soziales Narrativ herausgebildet hat, das die politische Vorstellungskraft freisetzt und den gesunden Menschenverstand der Öffentlichkeit neu formt. Sie veranlasst viele Menschen auf der ganzen Welt, den Status quo durch konkrete Aktionen, Projekte oder Strukturen in Frage zu stellen, die unsere Gesellschaften sozial und ökologisch gerecht und nachhaltig machen.

Das David-Graeber-Institut bietet eine Plattform für Projekte, die sich sowohl direkt auf David Graebers Erbe beziehen und seine Ideen weiterentwickeln, als auch für Projekte, die sich verselbstständigen und sein Werk fortführen und weiterführen.

Einige der Projekte für den öffentlichen Diskurs gibt es bereits, wie das Museum of Care, Anthropology for Kids, Visual Assembly, Carnival, the Yes Woman, Fight Club und die Open Library, die Menschen zusammenbringen, um den Status quo in Frage zu stellen und neue Wege des Denkens, Lebens und Teilens zu fördern.

Wenn Sie helfen oder mitmachen möchten: Hier ist die Liste der Dinge, die wir suchen.

 

-> link zur Webseite von David Graeber