Über das Verschwinden der Glühwürmchen bei Agamben und Pasolini

Wo Pasolini 1975 mit seinem Aufsatz vom Verschwinden der Glühwürmchen aufhörte, knüpft Girgio Agamben an.

 

Pasolini über das Verschwinden der Glühwürmchen

 

Pier Paolo Pasolini erwähnt die Glühwürmchen zum ersten Mal in einem Brief an Franco Farolfi am 31. Januar 1941. Mit einigen Freunden war Pasolini in einer mondlosen Nacht auf einen Hügel gestiegen und hatte eine Unmenge von Glühwürmchen entdeckt. Er schrieb: „sie bildeten Feuerwälder in den Sträuchern und wir beneideten sie, weil sie sich liebten, weil sie einander mit Licht und Liebesflügen suchten.“ In einer Zeit, in der in Italien Krieg und Faschismus herrschten, beschreibt er diesen Moment des Lachens, des Begehrens, der Freude und der Freundschaft als einen Moment der Unschuld.

 

Fast auf den Tag genau 34 Jahre später veröffentlicht Pasolini seine Totenklage über das Verschwinden der Glühwürmchen. "Ich gäbe, auch wenn er ein Multi ist, den ganzen Montedison-Konzern für ein Glühwürmchen." Er nennt den kulturellen Niedergang Italiens durch die Industrialisierung und die Konsumgesellschaft einen Völkermord. Er sah darin einen tiefer gehenden Faschismus als den historischen Faschismus unter Mussolini. Der wahre Faschismus war für ihn der Faschismus, der die Werte, die Seelen, die Sprache, die Gesten und die Körper der Menschen attackierte und dem man keinen Widerstand mehr leisten konnte, weil er in das Bewußtsein eingedrungen war. Mit dem Verschwinden der Glühwürmchen ist mehr als eine ökologische Katastrophe gemeint. Es ist für Pasolini ein poetisches und zu gleich apokalyptisches Bild für das Verschwinden des Menschlichen.

 

Giorgio Agamben über das Verschwinden der Erfahrung

 

Wo Pasolini 1975 mit seinem Aufsatz vom Verschwinden der Glühwürmchen aufhörte, knüpft Girgio Agamben an: mit einer Beschreibung der Gegenwart als latente Apokalypse. Die Kindheit nennt er eine Ur-erfahrung, die jedoch in unserem armseligen heute zerstört würde, ausgelöscht wie ein Glühwürmchen ( Kindheit und Geschichte, 2004).  So wie Pasolini behauptet, dass es keine Menschen mehr gibt, behauptet Agamben, dass keine Erfahrung mehr gibt.

 

Pasolini und Agamben teilen, so George Didi - Hubermann , eine große Ungeduld gegenüber der Gegenwart und eine unendliche Geduld gegenüber der Vergangenheit. Für Pasolini sind Gesten, Gesänge, Dialekte, die Ruinenarchitektur Materas oder die Vorstädte Roms Formen des Nachlebens und Überlebens. Weil Pasolini und Agamben, in der Tiefe der Zeit forschen und uns mit der Wiederkehr der Geschichte konfrontieren, rufen beide oft Empörung hervor. Agamben zieht zum Beispiel in „Herrschaft und Herrlichkeit“ Parallelen von den mittelalterlichen Akklamationen zu den duce, duce Rufen im Faschismus bis zu den Totalitarismen in heutigen Demokratien. Er betreibt philosophische Archäologie in der Tradition von Benjamin, Kant, Nietzsche, Heidegger und Foucault.

 

George Didi-Hubermann, Kunsthistoriker und Philosoph, möchte sich mit dem Verschwinden der Glühwürmchen und dem politischen Pessimismus Agambens nicht abfinden. Den düsteren Vorhersagen über das Unbehagen in der Kultur möchte er mit dem Buch "Überleben der Glühwürmchen ( 2012) widersprechen. Pasolini und Agamben sieht Didi - Hubermann in der jüdisch christlichen Tradition, in der apokalyptische Visionen das Kommen der Offenbarung einer höheren Wahrheit vorbereiten. Didi - Hubermann aber meint, die Glühwürmchen seien nicht ganz verschwunden, sondern nur aus dem Gesichtfeld derer verschwunden, die nicht am richtigen Ort sind.  Er kitisiert Agamben´s Philosophie als zu wenig dialektisch und fragt: wo ist die Archäologie der Revolutionen, der Widerstände, der Glühwürmchen? 

 

Apokalypsen

 

Leben wir in apokalyptischen Zeiten? wurde Agamben in der Frankfurter Rundschau vor einigen Jahren gefragt. Seine Antwort: "Die Vorstellung von einem Ende der Geschichte gehört zu den Grundlagen der christlichen Tradition. Die Theologen allerdings haben schon lange den Schalter „jüngstes Gericht“ geschlossen. Die Wissenschaftler haben ihn wieder geöffnet. Heute sind sie es, die uns mit Endzeiterwartungen versorgen."

 

2019 hielt Giorgio Agamben eine Woche lang Vorträge in Berlin. Mittendrin hielt er plötzlich inne und sagt: „Ich hoffe, dass allen hier im Raum klar ist: Alles politische Handeln ist unmöglich geworden.“ Politisches Handeln sei nicht mehr möglich, weil wir von Wirtschaftsmächten regiert werden.

 

2020 fragt er: "Wie konnte es dazu kommen, dass die ganze Gesellschaft dazu bereit ist, sich verpestet und verseucht zu fühlen, sich in Häusern zu isolieren, Freundschaften, Liebesbeziehungen, politische Überzeugungen zu opfern? Was wird aus menschlichen Beziehungen, wenn man sich gewöhnt, auf unabsehbare Zeit so zu leben? Was ist das für eine Gesellschaft, die keinen anderen Wert hat, als das eigene Überleben? Wie konnte es passieren, dass das ganze Land ethisch und politisch zusammenbricht, ohne dass man es bemerkt? Und eine seiner Antworten lautet: Offensichtlich ist es so, dass es die Seuche irgendwie, wenn auch unbewusst, bereits gab. Die Lebensbedingungen waren bereits so, dass ein einziges Zeichen genügte, um sie als dass zu erweisen, was sie waren: sprich unerträglich – eine Seuche." ( Aus: An welchem Punkt stehen wir jetzt. Epidemie als Politik)

 

Das Buch "Die kommende Gemeinschaft" ist für Didi Huberman das schönste Buch Agambens. Darin beschreibt Agamben das menschliche Gesicht als das, was vom Gemeinsamen zum Eigenen übergeht und vom Eigenen zum Gemeinsamen. In diesem Übergang öffnet sich für Agamben ein Raum der Ethik. "Das Antlitz ist das im höchsten Maße Menschliche, der Mensch hat ein Antlitz und nicht nur eine Maul oder ein Gesicht, denn er haust in der Offenheit, denn in seinem Antlitz zeigt er sich und kommuniziert er. Deshalb ist das Antlitz der Ort der Politik. Unser unpolitisches Zeitalter möchte sein Antlitz nicht sehen, hält es auf Distanz, maskiert und bedeckt es. Es sollen keine Antlitze mehr da sein, sondern nur Zahlen und Ziffern. Auch der Tyrann ist ohne Antlitz."

 

 

 

Projekte

 

-> Allegorien der Macht - Eine szenische Reflexion zu Pier Paolo Pasolinis Salò oder die 120 Tage von Sodom / Galerie der abseitigen Künste

 

Literatur

 

Agamben: Die kommende Gemeinschaft. Merve, Berlin 2003.

 

Agamben: Ausnahmezustand. Suhrkamp. Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll. Frankfurt am Main 2004.

 

Agamben: Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte. Aus dem Italienischen übersetzt von Davide Giuriato. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004.

 

Überleben der Glühwürmchen. Georges Didi-Huberman. 2012.