Pulcinella und die Lazzari

 

Pulcinella ist eine Figur der commedia dell´arte und repräsentiert noch heute die Begabung, sich auf spezielle Art durchs Leben zu schlagen: mit Witz, List, Vitalität, Unverschämtheit und Würde.

 

„Ti mando nel pease di pulcinella“ heißt soviel wie „ich schick dich zum Teufel“. Da viele Italiener den Namen des Teufels lieber nicht aussprechen, schicken sie sich gegenseitig ins Land des Pulcinella. Als Symbolfigur muss Pulcinella für vieles herhalten. Ursprünglich  ist Pulcinella eine Figur des süditalienischen und neapolitanischen Volkstheaters.  Als Diener (servo) repräsentierte er die untergeordnete Stellung des Volkes. Pulcinella trug eine vogelnasige,  phallusähnliche Maske, war listig, drückte sich in frechen Gesten aus und war immer auf Betrug und Vorteil aus.

 

Es wird vermutet, dass Pulcinella (vor-)römische, also griechische Ursprünge in der Figur des Muccus im Atellantheater hatte, wo er den Dümmling repräsentierte, der von den anderen betrogen und verspottet wurde. In der commedia dell´arte entwickelte sich die Figur des Pulcinella im 19. Jahrhundert vom Diener und Hanswurst zu einem "normalen" Menschen mit seinen täglichen Sorgen. Er wurde ein Allerweltskerl. Pulcinella behielt aber seine Liebe für lärmendes Durcheinander und Spaß an Geistesblitzen, schnelles Handeln und Schlagfertigkeit. Er zeichnete sich durch einem immensen Reichtum an Gesten aus. Ganze Bücher wurden auch über die Gesten- und Körpersprache der Neapolitaner verfasst. Man sagt, sie reden noch immer auf die gleiche Art mit Händen und Füßen wie die die alten Griechen. Allein 20 Seiten in Andrea de Jorros Lexikon der stummen Eloquenz befassen sich mit dem erotischen Zeichen der corna ( Hörner ) und dem weiblichen pendant der fica ( Feige).

 

Pulcinella Gruppen traten als Komiker früher bei vielen Gelegenheiten auf und begleiteten sogar Trauerzüge zum Friedhof, wobei es allerdings Sitte war, sie mit faulem Obst zu bewerfen. Bis in die 1980er Jahre war Pulcinella (zu deutsch: Küken) im Straßentheater der Gassen Neapels präsent und wurde dann vom Fernsehen verdrängt.  Noch heute aber repräsentiert Pulcinella die speziellen Begabungen und Eigenschaften der Neapolitaner, sich auf spezielle Weise durchs Leben zu schlagen.

 

"Die Gaukler "(Saltimbanchi, Colombina e Pulcinella) von1797 gehört zu den letzten Bildern, die Domenico Tiepolo malte. Rund 40 Jahre lang malte er in seiner Familienvilla bei Venedig an einer erstaunlichen Freskenserie. Seine letzten Bilder aus der Zeit kurz vor der Ankunft Napoleons zeigen Pulcinella, das damals als Stadt der Sünde galt. Wie Pulcinella tröstete Tiepolo sich durch Schwelgen in Sorglosigkeit und vergangenem Glück über die langen Kriegsjahre und aktuelle Existenzangst hinweg. Seine Akrobaten halten, wie Venedig, die Balance zwischen dem alten Europa und der noch unbekannten Moderne. Ein kurzer Moment der Schwerelosigkei.

 

Pulcinella ist auch die Hauptfiguer dse Films BELLA E PERDUTA (2015) eine mythische Parabel über Verfall und den Wert des vermeintlich Wertlosen. Regisseur Pietro Marcello ließ sich von der italienischen Sagenwelt inspirieren und zeigt uns das heutige Italien in all seiner Zerrissenheit durch die Augen eines Büffels und eines Narren.

Die Lazzari und der Freiheitsbaum

 

Pulcinella war auch das alter ego der "Lazzari". "Lazzari" oder "Lazzaroni" hießen die Armen (oder auch Schurken) in Neapel. Ihr Name stammt vom biblischen Lazzaro oder vom spanischen Wort für Lumpen oder Lepra ab. Als Erkennungszeichen trugen sie eine rote Mütze, wie später die Jakobiner und heute wieder einige Gelbwesten in Frankreich.

 

"Sie lebten in den Tag hinein, ohne für mehr als ihr tägliches Auskommen zu sorgen, unbekümmert und fröhlich, voller Witz und Sinn für Komik. Ihre Armut drückte die Lazzari nicht nieder, machte sie nicht traurig und finster, sondern gab ihnen eine geistige Elastizität, eine Art gelassener, halb künstlerischer, halb philosophischer Sicht der Dinge.“ so der italienische Historiker Benedetto Croce. Die Lazzari sorgten in den Gassen von Neapel für Ruhe und Ordnung oder für Unruhe und Aufruhr. 1585 organisierten sie wegen steigender Brotpreise erfolgreich einen Aufstand und da Neapel eine schwer zu regierende Stadt war, versuchte so mancher König, sich gut mit den Lazzari zu stellen.

 

Insbesondere Ferdinand IV (1751-  1825), König von Neapel ( Beiname: König Lazzarone), gelang es, sich bei den Lazzari beliebt zu machen. Er sprach ihren Dialekt, hatte eher grobe Umgangsformen und belebte das Schauspiel des Schlaraffenbaums wieder. Früchte, Gemüse und Würste ließ er an ein baumartiges Gestell hängen und dann von der Bevölkerung erstürmen. Trotz des grausamen Spektakels, bei dem es auch zu Toten kam, war "König Lazzarone" populär.

 

Als Ferdinand im Zuge der französischen Revolution die Flucht nach Palermo ergriff, richtete sich die Wut der Bevölkerung nicht gegen ihn, sondern gegen die Jakobiner, die die freie Republik Neapel ausriefen. "Endlich sind wir frei und endlich ist der Tag gekommen, an dem wir die heiligen Worte Freiheit und Gleichheit aussprechen und uns als würdige Söhne der Mutterrepublik, als würdige Brüder der freien Völker Italiens und Europas sehen können."

Der Adel rief Gleichheit und Demokratie aus, aber die Lazzari wollten davon nichts wissen. Sie hatten das Gefühl, der Freiheitsbaum der Jakobiner war statt mit Würsten nur mit schönen Worten geschmückt.

 

Glücklich wie Lazzaro ( Lazzaro felice) 2018

 

Lazzaro felice (2018) ist ein Film von Alice Rohrwacher. Er handelt von dem Jungen Lazzaro, der zusammen mit vierzig Bauern auf der Tabakplantage der Marchesa de Luna arbeitet. Lazarro ist überall zur Stelle, wo eine helfende Hand gebraucht wird. „Lazzaro trag die Großmutter!“ „Lazarro, die Tabakblätter." Lazarus – wörtlich bedeutet der Name Gott hat geholfen.

„Ein demütiger Bauer, der Gott dient, ist besser als ein Wissenschaftler.“ lehrt die Marchesa de Luna die Kinder. Inviolata (deutsch: unangetastet) heißt der Ort, an dem die Geschichte spielt, und es ist eine Welt, in der es trotz feudaler Ausbeutung auch viele Momente des Glücks gibt. Ein Glück, das aus Gemeinschaft entsteht und einer Gegend, unwirklich schön wie eine Mondlandschaft.

 

Regisseurin Alice Rohrwacher zeichnet im ersten Teil des Films das Bild eines archaischen, bäuerlichen Italiens nach, das noch in den 1980er Jahren nicht viel anders ausgesehen hat als in Jahrhunderten davor. Der erste Teil des Films endet mit Lazzaros tödlichem Sturz in einen tiefen Abgrund und der plötzlichen Befreiung der Bauern aus der Knechtschaft der Marchesa. „Die Zeit der Leibeigenschaft ist vorbei. Es gibt Löhne, Regeln, Schulen.“ verkünden die Befreier. Befreit aber ohne Landbesitz suchen die Menschen ihr Glück in der Stadt.

 

20 Jahre später, von einem Wolf auf wundersame Weise wieder zum Leben erweckt, trifft Lazzaro in der Stadt auf Migranten aus aller Welt, die sich auf dem Arbeitsmarkt gegenseitig unterbieten. „Drei Euro für die Olivenernte! Das ist ein leichter Job. Wer macht es für weniger?“ Lazzaro trifft auch Menschen aus Inviolata wieder. Die schlagen sich mit kleinen Betrügereien durch und führen eine Randexistenz auf einer Eisenbahnbrache. Erst halten sie Lazzaro für einen Geist. „Geist oder Heiliger, wenn Du bleiben willst, musst Du arbeiten.“

Für eine kurze Zeit wächst wieder eine kleine Gemeinschaft zusammen. Lazzaro weckt Träume und Erinnerung an Inviolata, aber für einen Heiligen ist kein Platz mehr in dieser Welt. Er wird am Ende auf absurde Weise zum Sündenbock und Märtyrer. " Geh arbeiten!" schreit die wütende Menge in einer Bank, bevor sie über ihn herfällt, weil sie ihn irrtümlich für einen Räuber hält.

 

"Glücklich wie Lazzaro" ist ein Film über Politik, Ausbeutung, ökonomische Gewalt und die Migration der Landbevölkerung in die Städte. Radikal in seiner Verweigerung von Hoffnung, aber ohne zu moralisieren oder zu deprimieren. Wie Pasolini hat Rohrwacher eine grandiose Fähigkeit, Gesichter und Gesten vor der Kamera zur Entfaltung zu bringen. Sie teilt Pasolinis Liebe zum Subproletariat als Gegensatz zur bürgerlichen Verlogenheit und wie Pasolini hat Rohrwacher kein Interesse daran, eine Heiligengeschichte nachzuerzählen, sondern an einer Remythologisierung von Geschichte.

 

Der Süden - ein von Teufeln bewohntes Paradies?

 

Seit Goethes Italienischer Reise wurde in der europäischen Reiseliteratur die Überzeugung verbreitet, der Süden sei ein vom Teufel bewohntes Paradies. Auch Geschichten wie die vom brutalen Spektakel des Schlaraffenbaums haben dazu beigetragen, dass in jedem dritten Italienbuch diese Überschrift zu finden ist, wenn es um den mezzogiorno geht.

 

Ich bin in einem alten Reiseheft aus den 80er Jahren zufällig auf einen Artikel über Pulcinella gestolpert:  " Die letzten echten Erben stehen auf dem Markt und preisen lauthals und gestenreich ihre Waren an. (..) Der riesige Basar, der sich in der brüchigen Innenstadt ( Von Neapel) mehr und mehr ausbreitet, ist immer noch farbig, lärmend, bewegt, ist ein Nebeneinander von Altersgrau und Nagelneu, von Vitalität, Schlamperei, Unverschämtheit und Würde." schrieb die Autorin Toni Kienlechner.

 

Dass in jedem Italiener noch heute ein bißchen Pulcinella steckt, ist sicher nicht nur ein Klischee.  Mir ist aufgefallen, dass manche Apulier gerne mit diesem Klischee spielen. "Ein bißchen lügen und betrügen ist doch normal. Aber warum gleich die ganze Welt zerstören?" meint ein Freund zu mir.  In Taranto hat jemand auf eine Mauer geschrieben: "Voglio una vita. La voglio piena di guai." ( Ich will ein Leben. Ich will es voller Ärger). Die Zeile stammt aus einem Lied von Vasco Rossi zu deutsch: "Flegelhaftes Leben". "Bastardo" habe ich gelernt, kann durchaus als Kompliment gemeint sein und "un buon diavolo" heißt "eine gute Haut."

 

Giorgio Agamben über Pulcinella

 

Der Philosoph Giorgio Agamben arbeitete von 1974 und 1975 am Londoner Warburg Institute. Aus der Zeit datiert sein Buch Stanze. La parola e il fantasma nella cultura occidentale (1977). Agamben versucht in dieser Studie, die Imagination und die Urerfahrungen des Menschen mit Hilfe der Montage von Bildern zu bewahren wie -> Aby Warburgs Bilder-Atlas Mnemosyne. In seinem Essay Noten zur Geste aus dem Buch Mezzi senza fine (1996, deutsch: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik), der in der internationalen Filmkritik und im Tanztheater diskutiert wird, greift Agamben auf Warburg, der in der Geste ein verkörpertes Archiv sah.

 

2019 hielt der italienische Philosoph Giorgio Agamben eine Woche lang Vorträge in Berlin, die dem Muster der gestischen Aktion folgten. Mitten im Vortrag hielt Giorgio Agamben plötzlich inne und sagt: „Ich hoffe, dass allen hier im Raum klar ist: Alles politische Handeln ist unmöglich geworden.“ Politisches Handeln sei nicht mehr möglich, so Agamben, weil wir von Wirtschaftsmächten regiert werden.

 

In dem Text „Der Autor als Geste“ hatte Agamben an der Commedia dell’arte gerühmt, dass deren Scherze unaufhörlich die Geschichte durchbrechen, die auf der Bühne vor sich geht. Am Beispiel des Pulcinella definierte Agamben das Komische als eine Unmöglichkeit des Sagens, die in der Sprache ausgedrückt wird, und als eine Unmöglichkeit des Handelns, die sich in der Gebärde artikuliert. Könnte es statt der Politik der Handlung eine „Politik der Gebärde“ geben? Eine „komische Politik“? Eine komische Politik als Unterbrechung der totalen Ungerechtigkeit?

 

Im Saal des Italienischen Kulturinstituts trat mit Agamben auch der letzte neapolitanischen Guarattellaro, der Puppenspieler Bruno Leone auf, der zeigte wie die Marionette des Pulcinella dem Henker ein Schnippchen schlägt.

 

Giorgio Agamben hat eine Rubrik auf dem online portal quodlibet ( italienisch).