Nicht nur EU-Wahlkampf verriet vor allem eins: die Angst geht um in Europa. Angst vor Nationalismus. Aber nicht jeder, der gegen die EU ist, muss zwangsläufig Antidemokrat oder Nationalist sein.
Als die Idee von Europa vor wenigen Jahren zu kriseln begann, meldeten sich einige Intellektuelle und Journalisten in den Kultursendern zu Wort und sprachen davon, dass Europa eine gemeinsame Erzählung oder einen Mythos brauche. Die Kultursender schickten ihre Journalisten auf Reisen, interviewten Künstler, Musiker, Literaten und befragten sie nach ihren Visionen. Nichts davon ist mir in Erinnerung bis auf den Sänger einer Band aus Österreich, der sinngemäß sagte: Europa ist mir eigentlich egal. Der Mensch ist mir wichtig.
Der griechische Mythos von Europa wird im wesentlichen so erzählt, dass Göttervater Zeus (lat.: Iuppiter) ein begehrliches Auge auf Europa (Tochter der Telephassa und des Königs Agenor von Tyros im heutigen Libyen) , sich ihr in Stiergestalt näherte und sie verschleppte. Von der Schönheit und Sanftheit des Stiers eingenommen, soll Europa ihn gestreichelt, sich auf seinen Rücken gesetzt, Zeus sich daraufhin erhoben, sie nach Kreta entführt und mit ihr Kinder gezeugt haben. Bei Ihrer späteren Flucht verlor Europa den Halt und stürzte in den Tod. Aus Gram über ihren Tod nannte Zeus den Kontinent Europa um sich ihrer ewig zu erinnern.Europa, ihre Vorfahren und Nachkommen bezeugen die Verbindung der Völker. Griechen, Kreter, Phönizier und Ägypter, die sich ums Mittelmeer gruppieren, werden in dem Sagenstoff von Europas Familie, die den Mittelmeerraum durchreist und besiedelt, als von Vielfalt geprägte kulturelle Einheit gesehen. In der Antike wurde der Raub der Europa keineswegs als gewaltsame Entführung verstanden, er war eine Glücksmetapher.
-> Europalexikon der Bundeszentrale für politische Bildung / Mythos Europa
-> griechische Mythologie/ Europa
Die Inspiration für diese Seite von "Das Meer und Apulien" kam zunächst durch die Sendung -> "Eine lange Nacht über das Mittelmeer" (Deutschlandfunk vom 5.11.2016), die mit diesen Worten eingeleitet wurde:
"In einer Zeit, in der Europa in einer Identitätskrise steckt, an Amnesie leidet, da lädt das Mittelmeer zu einer anderen Art der Geschichtsschreibung ein – Europa neu zu denken, von seinem Ursprung, vom Süden her."
Für die Sendung "Europäisches Handgepäck" bereiste auch Mathias Greffrath 2018 Europa auf der Suche nach dem gemeinsamen kulturellen Erbe und dem, was die Europäer einen könnte. Sein Fazit ist, dass die Begeisterung für Europa als kultureller und politischer Raum im Wesentlichen eine Angelegenheit von Intellektuellen ist. In Italien war Greffrath zwar nicht, aber in Portugal - wo ihm, wie er sagt, das politische Herz aufging. Wie Italien wurde Portugal und der europäischen Süden von der Wirtschaftskrise 2008 besonders hart getroffen und leidet noch heute darunter. In Portugal begegnete Greffrath der Ökonomin Mariana Mortagua und dem Schriftsteller Rui Zink. Rui Zink meint, es fließt nur dann Geld in diese Länder, wenn sie billiger bleiben, und möglichst demütig.
„Wissen Sie, wenn man jeden Tag gesagt kriegt, Ihr seid Idioten – und das hat die Troika gesagt und noch ein paar hässliche Dinge mehr. Schweine hat man uns hier genannt, den gesamten Süden PIGS: P wie Portugal, I wie Italien, G wie Griechenland und S wie Spanien. “
Mariana Mortagua : „Meine Gründe, überhaupt einen Austritt zu erwägen, wären auch nicht ökonomisch, sondern demokratisch. Das zu retten, was noch da ist von der Demokratie. Die Mentalität von Furcht und Erniedrigung ist doch auch nach vierzig Jahren Faschismus nicht verschwunden. Man erzählt den Menschen, wir hätten über die Verhältnisse gelebt, es sei unsere Schuld, wir müssten um Geld betteln.“
->Europäisches Handgepäck/ Nelken im Klostergarten (Deutschlandfunk)
Dem Süden Italiens geht es nicht besser. Demütigung hat hier fast schon Tradition. Von den Norditalienern werden Süditaliener gerne als terroni (Erdfresser) beschimpft. Bis heute wird Süditalien oft mit dem düsteren Mittelalter assoziiert und als antimoderner Dämon, Wüste der Zivilisation, Sumpf der Korruption und des Verbrechens, Ort unverbesserlicher Armut und des Elends dargestellt. Das 9000 Jahre alte Matera ist in diesem Jahr eine der beiden Kulturhauptstädte Europas. In kaum einem Artikel über Matera fehlt das Schlagwort Elend oder Schande, weil es hier nach dem 2. Weltkrieg eine Cholera-Epedemie gab. Für das kulturelle Programm interessiert sich dagegen kaum ein Journalist. Dabei wäre das doch eine Chance für eine Perspektivwechsel.
Zum Beispiel die Sektion Utopien und Dystopien: Ausgehend von dem utopischen Spannungsfeld der Geschichte Materas geht es bei diesem Thema darum, Wege zu finden, die Vorurteile über die Städte des Südens in Frage stellen, z.B. dass Tourismus der einzige Weg ist, um ökonomische Stabilität zu erreichen, dass Technik das einzige Modell der Vermittlung von Beziehungen ist, industrielle Monokultur die einzige Möglichkeit für Entwicklung und Essen und Wein das wesentliche Identifikationsmoment der Region.
-> Matera 2019/ offizielles Programm (englisch)
-> Überblick über das Programm auf diesem Blog (deutsch)
Mittelmeer als Ort von Multikulturalität und Austausch
Süditalien ( Großgriechenland ) war 500 Jahrhunderte lang das brillianteste Zentrum der griechischen Zivilisation und ist bis heute die am besten
bekannte Region dieser antiken Kultur. Von der Antike bis ins späte Mittelalter war Süditalien noch Vorbild für Europa. Multikulturalität, religiöse Toleranz und der Handel blühten. Traditionen
des römischen und griechischen Imperiums ( Magna Graecia) wurden unter den Sarazenen fortgesetzt. Selbst die für ihre Grausamkeit berüchtigten Normannen verwandelten sich in weitsichtige,
tolerante Herrscher. Das änderte sich erst nach der Eroberung durch Franzosen und Spanier sowie die Einführung des Feudalsystems, die die Region jahrhundertelang schröpfte.
Franco Cassano, Soziologieprofessor aus Apulien, hat in den 1990er Jahren das Denken Camus` wieder aufgegriffen und aktualisiert. Was den Süden aus seiner Sicht reich macht, sind Quellen anderer Archive an Werten und Traditionen wie Langsamkeit, Kontemplation, Geselligkeit und Gastlichkeit. Mediterrane Formen von Austausch, Hybridität und Pluralität sieht er als Formen des Widerstands zu den Exzessen der Wachstumsgesellschaft.
„Ich habe 2 Jahre in Rom verbracht und da nie die Art von Cosmopolitanismus auf allen Ebenen der Gesellschaft beobachtet wie in zwei Tagen im Salento.“ meint der apulische Filmemacher Edoardo Winspeare in einem Interview mit der N.Y. Times. Was den Salento aus seiner Sicht einzigartig macht, ist die lebendige Präsenz seiner Geschichte: von den Bewohnern, den gegensätzliche Phenotypen Nordafrikas und Nordeuropas bis zum griechischen Dialekt, der noch heute in einigen Dörfern des Salento gesprochen wird. ‘‘Zeni sù en ise ettù sti Kalimera,’’ (Du bist kein Fremder in Kalimera) steht auf einer griechischen Statue in Calimera, dem Zentrum der Griko, wo der griechische Dialekt noch heute gesprochen wird.
-> NY Times " The ancient allure of puglia"
-> mehr über die Filme von Edoardo Winspeare
Europa als Kreuzpunkt der Kulturen thematisierte auch die Wander-Biennale "Manifesta 12", die 2018 in Palermo zu Gast war. Der Bürgermeister, Leoluca Orlando, antworte auf die Frage, wieviele Migranten nach Palermo gekommen sind: "Keiner! Wer nach Palermo kommt, wird Palermitaner." Orlando nennt Matteo Salvini einen Populisten der Intoleranz, der die klassische Kultur der italienischen Gastfreundschaft pervertiert.
Ähnlich äußerte sich Michele Emiliano, der Ministerpräsident Apuliens. Als Matteo Salvini Bari besuchte, klärte Emiliano ihn über den Schutzheiligen San Nicola auf:
„Der wichtigste Schwarze Apuliens, der uns gelehrt hat, wie wir den Frieden bewahren in unseren Geschäftsangelegenheiten und unseren menschlichen Beziehungen.“
-> " Wo sich Europas Probleme kreuzen" - Der Bericht über Palermo, seinen Bürgermeister und die Manifesta wurde am 8.7.2018 bei Titel, Thesen, Temperamente gesendet und ist noch weitere fünf Jahre verfügbar.
Für Franco Cassano beginnt der südliche Gedanke an den Küsten Griechenlands mit der Öffnung der griechischen Kultur und zum Dialog. Die Gefahr des Fundamentalismus existiert nach Cassano nicht nur in Form von Selbstmordattentätern, sondern auch in der Form eines aktiven Eurozentrismus, der die eigenen Prinzipien exportiert und die Andersartigkeit des Anderen auslöscht. Das Mediterrane Denken dagegen sieht er als eine entmilitarisierte Lesart der eigenen Tradition, die in anderen Traditionen ebenfalls neue Lesarten hervorbringen kann. Hier findet ihr eine Zusammenfassung der wichtigsten Thesen seines Buches - >"Il pensiero meridiano" ( Der Südliche Gedanke, 1996 ), das bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde.
Alle unter Mediterraneo versammelten Autoren von Cassano über Camus, Nietzsche, Pasolini beziehen sich auf die griechische Philosphie und ihre Mythen.
Alle sehen sich konfrontiert mit dem Vorwurf der (rückwärtsgewandten) Romantik. Aus Sicht einer Kultur, die Fortschritt vor allem mit wirtschaftlichem Wachstum gleichsetzt, ist das nicht
verwunderlich. Warum ich hier trotzdem diese ollen "Kamellen" auspacke, ist weil sie noch eine klare Vision vermitteln, während wir uns heute eine andere Welt oder ein anderes Europa kaum noch
vorstellen können. Es könnte Inspiration und Orientierung für eine Postwachstumsgesellschaft sein.
Die zehn Worte, die Camus für die wichtigsten seines Lebens hielt, waren: der Sommer, das Meer, die Welt, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Schmerz, die Erde, die Mutter.
Mediterrane Vernunft verbindet die Tugendlehre von Aristoteles mit christlich-augustinischen Erkenntnissen. Wichtig ist die Idee des richtigen Maß oder des Ausgleichs von Gegensätzen. Das Prinzip "Land" ist ein Bild für Zugehörigkeit, soziale Bindung und Identität, das „Meer“ dagegen für Abfahrt und individuelle Freiheit.
Er war Melancholiker, Provokateur, Kommunist, Filmemacher und aus heutiger Sicht ein Prophet. Erinnerungen an Pasolinis Film Das erste Evangelium Matthäus und das Verschwinden der Glühwürmchen.
Mafia und Korruption, Kirche und Moral - in Italien und Deutschland. Versuch eines Perspektivwechsels und eine kurze Geschichte des mezzogiorno.
Beim italienischen Nord-Süd Konflikt geht um viel mehr als Lokalpatriotismus. Es geht um Unterschiede im Weltbild: den Gegensatz von protestantischer Rationalität und mediterraner Vernunft.