Mediterraneo: Europa vom Mittelmeer aus denken

 

Nicht nur EU-Wahlkampf verriet vor allem eins: die Angst geht um in Europa. Angst vor Nationalismus. Aber nicht jeder, der gegen die EU ist, muss zwangsläufig Antidemokrat oder Nationalist sein.

 

Als die Idee von Europa vor wenigen Jahren zu kriseln begann, meldeten sich einige Intellektuelle und Journalisten in den Kultursendern zu Wort und sprachen davon, dass Europa eine gemeinsame Erzählung oder einen Mythos brauche. Die Kultursender schickten ihre Journalisten auf Reisen, interviewten Künstler, Musiker, Literaten und befragten sie nach ihren Visionen. Nichts davon ist mir in Erinnerung bis auf den Sänger einer Band aus Österreich, der sinngemäß sagte: Europa ist mir eigentlich egal. Der Mensch ist mir wichtig.

 

Wer war nochmal diese Europa?

Der griechische Mythos von Europa wird im wesentlichen so erzählt, dass Göttervater Zeus (lat.: Iuppiter) ein begehrliches Auge auf Europa (Tochter der Telephassa und des Königs Agenor von Tyros im heutigen Libyen) , sich ihr in Stiergestalt näherte und sie verschleppte. Von der Schönheit und Sanftheit des Stiers eingenommen, soll Europa ihn gestreichelt, sich auf seinen Rücken gesetzt, Zeus sich daraufhin erhoben, sie nach Kreta entführt und mit ihr Kinder gezeugt haben. Bei Ihrer späteren Flucht verlor Europa den Halt und stürzte in den Tod. Aus Gram über ihren Tod nannte Zeus den Kontinent Europa um sich ihrer ewig zu erinnern.Europa, ihre Vorfahren und Nachkommen bezeugen die Verbindung der Völker. Griechen, Kreter, Phönizier und Ägypter, die sich ums Mittelmeer gruppieren, werden in dem Sagenstoff von Europas Familie, die den Mittelmeerraum durchreist und besiedelt, als von Vielfalt geprägte kulturelle Einheit gesehen. In der Antike wurde der Raub der Europa keineswegs als gewaltsame Entführung verstanden, er war eine Glücksmetapher.

 

-> Europalexikon der Bundeszentrale für politische Bildung / Mythos Europa

-> griechische Mythologie/ Europa

 

Das Mittelmeer und die Suche nach den Wurzeln Europas

 

Die Inspiration für diese Seite von "Das Meer und Apulien" kam zunächst durch die Sendung -> "Eine lange Nacht über das Mittelmeer" (Deutschlandfunk vom 5.11.2016), die mit diesen Worten eingeleitet wurde:

 

"In einer Zeit, in der Europa in einer Identitätskrise steckt, an Amnesie leidet, da lädt das Mittelmeer zu einer anderen Art der Geschichtsschreibung ein – Europa neu zu denken, von seinem Ursprung, vom Süden her."

 

Für die Sendung "Europäisches Handgepäck" bereiste auch Mathias Greffrath 2018 Europa auf der Suche nach dem gemeinsamen kulturellen Erbe und dem, was die Europäer einen könnte. Sein Fazit ist, dass die Begeisterung für Europa als kultureller und politischer Raum im Wesentlichen eine Angelegenheit von Intellektuellen ist. In Italien war Greffrath zwar nicht, aber in Portugal - wo ihm, wie er sagt, das politische Herz aufging. Wie Italien wurde Portugal und der europäischen Süden von der Wirtschaftskrise 2008 besonders hart getroffen und leidet noch heute darunter. In Portugal begegnete Greffrath der Ökonomin Mariana Mortagua und dem Schriftsteller Rui Zink. Rui Zink meint, es fließt nur dann Geld in diese Länder, wenn sie billiger bleiben, und möglichst demütig.

 

„Wissen Sie, wenn man jeden Tag gesagt kriegt, Ihr seid Idioten – und das hat die Troika gesagt und noch ein paar hässliche Dinge mehr. Schweine hat man uns hier genannt, den gesamten Süden PIGS: P wie Portugal, I wie Italien, G wie Griechenland und S wie Spanien. “ 

 

Mariana Mortagua : „Meine Gründe, überhaupt einen Austritt zu erwägen, wären auch nicht ökonomisch, sondern demokratisch. Das zu retten, was noch da ist von der Demokratie. Die Mentalität von Furcht und Erniedrigung ist doch auch nach vierzig Jahren Faschismus nicht verschwunden. Man erzählt den Menschen, wir hätten über die Verhältnisse gelebt, es sei unsere Schuld, wir müssten um Geld betteln.“

 

->Europäisches Handgepäck/ Nelken im Klostergarten (Deutschlandfunk)

 

Dem Süden Italiens geht es nicht besser. Demütigung hat hier fast schon Tradition. Von den Norditalienern werden Süditaliener gerne als terroni (Erdfresser) beschimpft. Bis heute wird Süditalien oft mit dem düsteren Mittelalter assoziiert und als antimoderner Dämon, Wüste der Zivilisation, Sumpf der Korruption und des Verbrechens, Ort unverbesserlicher Armut und des Elends dargestellt. Das 9000 Jahre alte Matera ist in diesem Jahr eine der beiden Kulturhauptstädte Europas. In kaum einem Artikel über Matera fehlt das Schlagwort Elend oder Schande, weil es hier nach dem 2. Weltkrieg eine Cholera-Epedemie gab. Für das kulturelle Programm interessiert sich dagegen kaum ein Journalist. Dabei wäre das doch eine Chance für eine Perspektivwechsel.

 

Zum Beispiel die Sektion Utopien und Dystopien: Ausgehend von dem utopischen Spannungsfeld der Geschichte Materas geht es bei diesem Thema darum, Wege zu finden, die Vorurteile über die Städte des Südens in Frage stellen, z.B. dass Tourismus der einzige Weg ist, um ökonomische Stabilität zu erreichen, dass Technik das einzige Modell der Vermittlung von Beziehungen ist, industrielle Monokultur die einzige Möglichkeit für Entwicklung und Essen und Wein das wesentliche Identifikationsmoment der Region.

 

-> Matera 2019/ offizielles Programm (englisch)

-> Überblick über das Programm auf diesem Blog (deutsch)

 

Mittelmeer als Ort von Multikulturalität und Austausch

 

Süditalien ( Großgriechenland ) war 500 Jahrhunderte lang das brillianteste Zentrum der griechischen Zivilisation und ist bis heute die am besten bekannte Region dieser antiken Kultur. Von der Antike bis ins späte Mittelalter war Süditalien noch Vorbild für Europa. Multikulturalität, religiöse Toleranz und der Handel blühten. Traditionen des römischen und griechischen Imperiums ( Magna Graecia) wurden unter den Sarazenen fortgesetzt. Selbst die für ihre Grausamkeit berüchtigten Normannen verwandelten sich in weitsichtige, tolerante Herrscher. Das änderte sich erst nach der Eroberung durch Franzosen und Spanier sowie die Einführung des Feudalsystems, die die Region jahrhundertelang schröpfte.

 

Franco Cassano, Soziologieprofessor aus Apulien, hat in den 1990er Jahren das Denken Camus` wieder aufgegriffen und aktualisiert. Was den Süden aus seiner Sicht reich macht, sind Quellen anderer Archive an Werten und Traditionen wie Langsamkeit, Kontemplation, Geselligkeit und Gastlichkeit. Mediterrane Formen von Austausch, Hybridität und Pluralität sieht er als Formen des Widerstands zu den Exzessen der Wachstumsgesellschaft.

 

Ich habe 2 Jahre in Rom verbracht und da nie die Art von Cosmopolitanismus auf allen Ebenen der Gesellschaft beobachtet wie in zwei Tagen im Salento.“ meint der apulische Filmemacher Edoardo Winspeare in einem Interview mit der N.Y. Times. Was den Salento aus seiner Sicht einzigartig macht, ist die lebendige Präsenz seiner Geschichte: von den Bewohnern, den gegensätzliche Phenotypen Nordafrikas und Nordeuropas bis zum griechischen Dialekt, der noch heute in einigen Dörfern des Salento gesprochen wird. ‘‘Zeni sù en ise ettù sti Kalimera,’’ (Du bist kein Fremder in Kalimera) steht auf einer griechischen Statue in Calimera, dem Zentrum der Griko, wo der griechische Dialekt noch heute gesprochen wird.

-> NY Times " The ancient allure of puglia"

-> mehr über die Filme von Edoardo Winspeare

 

Europa als Kreuzpunkt der Kulturen thematisierte auch die Wander-Biennale "Manifesta 12", die 2018 in Palermo zu Gast war. Der Bürgermeister, Leoluca Orlando, antworte auf die Frage, wieviele Migranten nach Palermo gekommen sind: "Keiner! Wer nach Palermo kommt, wird Palermitaner." Orlando nennt Matteo Salvini einen Populisten der Intoleranz, der die klassische Kultur der italienischen Gastfreundschaft pervertiert.

Ähnlich äußerte sich Michele Emiliano, der Ministerpräsident Apuliens. Als Matteo Salvini  Bari besuchte, klärte Emiliano ihn über den Schutzheiligen San Nicola auf:

„Der wichtigste Schwarze Apuliens, der uns gelehrt hat, wie wir den Frieden bewahren in unseren Geschäftsangelegenheiten und unseren menschlichen Beziehungen.“

 

->  " Wo sich Europas Probleme kreuzen"  - Der Bericht über Palermo, seinen Bürgermeister und die Manifesta wurde am 8.7.2018 bei Titel, Thesen, Temperamente gesendet und ist noch weitere fünf Jahre verfügbar.

 

Für Franco Cassano beginnt der südliche Gedanke an den Küsten Griechenlands mit der Öffnung der griechischen Kultur und zum Dialog. Die Gefahr des Fundamentalismus existiert nach Cassano nicht nur in Form von Selbstmordattentätern, sondern auch in der Form eines aktiven Eurozentrismus, der die eigenen Prinzipien exportiert und die Andersartigkeit des Anderen auslöscht. Das Mediterrane Denken dagegen sieht er als eine entmilitarisierte Lesart der eigenen Tradition, die in anderen Traditionen ebenfalls neue Lesarten hervorbringen kann. Hier findet ihr eine Zusammenfassung der wichtigsten Thesen seines Buches - >"Il pensiero meridiano" ( Der Südliche Gedanke, 1996 ), das bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde.

 

Alle unter Mediterraneo versammelten Autoren von Cassano über Camus, Nietzsche, Pasolini beziehen sich auf die griechische Philosphie und ihre Mythen. Alle sehen sich konfrontiert mit dem Vorwurf der (rückwärtsgewandten) Romantik. Aus Sicht einer Kultur, die Fortschritt vor allem mit wirtschaftlichem Wachstum gleichsetzt, ist das nicht verwunderlich. Warum ich hier trotzdem diese ollen "Kamellen" auspacke, ist weil sie noch eine klare Vision vermitteln, während wir uns heute eine andere Welt oder ein anderes Europa kaum noch vorstellen können. Es könnte Inspiration und Orientierung für eine Postwachstumsgesellschaft sein.

 

 


Blogartikel zum Thema Mediterraneo:

Albert Camus: Mittelmeer, Mensch und Revolte gegen das Absurde

 

Die zehn Worte, die Camus für die wichtigsten seines Lebens hielt, waren: der Sommer, das Meer, die Welt, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Schmerz, die Erde, die Mutter.

 

Apulien, 2014
Apulien, 2014
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Was ist mediterrane Vernunft? Oder Odysseus vs. Moby Dick

 

Mediterrane Vernunft verbindet die Tugendlehre von Aristoteles mit christlich-augustinischen Erkenntnissen. Wichtig ist die Idee des richtigen Maß oder des Ausgleichs von Gegensätzen. Das Prinzip "Land" ist ein Bild für Zugehörigkeit, soziale Bindung und Identität, das „Meer“ dagegen für Abfahrt und individuelle Freiheit.

 


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Pasolini - Das erste Evangelium Matthäus

Er war Melancholiker, Provokateur, Kommunist, Filmemacher und aus heutiger Sicht ein Prophet. Erinnerungen an Pasolinis Film Das erste Evangelium Matthäus und das Verschwinden der Glühwürmchen.

 


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Franco Cassano und das Mediterrane Denken

 

 

"Langsam werden heißt den Bäumen, Ecken und Strassenlaternen Namen geben. Sich im Zickzack bewegen am lungomare, am Hafen, auf den Felsen, einem Hügel, der von der Sommersonne verbrannt ist. Zwischenstops einlegen, Bahnhofsvorsteher, Gepäckabgabestellen, Gärten...., Dinge und Orte, die Zeit respektieren und mit Wert füllen, mit Langeweile und Nostalgie, mit ungebändigtem Verlangen versiegelt im Herzen. Einen Kleiderschrank für jeden Traum haben mit großen Geschichten von kleinen Reisenden und dem Applaus von Theatern für mittelmäßige Schauspieler...Langsamkeit beinhaltet jedermanns Fähigkeit, ein Philosoph zu sein, Vertrauen in unsere Sinne haben, mit unseren Körpern die Erde schmecken, die wir überqueren, der Welt danken, ihr erlauben, uns zu erfüllen. Eine Hund betrachten, Schulschluss, Menschen, die im Dunkeln Karten spielen. Langsamkeit weiß, wie man Geschwindigkeit lebt, kann ihre transgressive Kraft würdigen, verlangt, auch wenn sie sie fürchtet, nach der Entweihung, die in der Schnelligkeit wohnt..."

 

 

Hafenmauer Bari
Hafenmauer Bari

 

1996 veröffentlichte Franco Cassano, Soziologieprofessor an der Universität Bari, das Buch Il Pensiero meridiano ( zu deutsch etwa: Der südliche Gedanke). Es geht darin um den Versuch einer Aufwertung der südlichen Kulturen als Möglichkeit, den Nordwesten der Welt aus einer Lebensweise herauszuführen, die geprägt ist von krank machender Beschleunigung, Umweltzerstörung und Ökonomisierung aller menschlichen Beziehungen. Vor allem im südlichen Mittelmeer seien Spuren eines alten Kultursystems, in dem sich seit Jahrhunderten verschiedene Kulturen gegenseitig beeinflussen, noch vorhanden. Es sei eine Kultur der Langsamkeit, der Weisheit, des sozialen Miteinanders und des kulturellen Kompromisses. 

 


Autonomie

 

Ein Leitgedanke des Mediterranen Denkens ist, dass der Nordwesten der Welt nicht nur wirtschaftlich die Oberhand gewonnen hat, sondern auch die Vorstellungswelt des Planeten beherrscht und aus dieser nördlichen Perspektive erscheint der Süden allzu oft als rückständig, archaisch, ungebildet, faul.

 

Um die Andersartigkeit und Autonomie des Südens zu wahren, meint Cassano, darf der Süden nicht länger nur durch die Augen des Nordens gesehen werden, sondern er muss lernen, den Wert der eigenen Perspektive auf die Welt zu erkennen und zu vertreten. Die Welt vom Süden her zu betrachten heißt vor allem, die große Geschichte von Wachstum und Wettbewerb zu hinterfragen, die so tut, als sei der Kapitalismus eine sportlicher Wettbewerb, bei dem jeder die gleichen Chance hätte, wenn er sich denn nur genug anstrengt.

 

Das Mediterrane Denken versteht Cassano als eine theoretische Bewegung, die zeigt, was das Denken des unendlichen Wachstums nicht zu zeigen erlaubt und als Versuch, das Wort Rückständigkeit von einer anderen Seite aus zu betrachten. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Verteidigung der Tradition oder eine Idealisierung des real existierenden Südens, sondern um eine Kritik an der angeblichen Neutralität und Universalität des kulturellen Modells des Nordens. Wie beherrschend dieses Modell geworden ist, sieht man daran, dass jede Kritik daran als Nostalgie oder Rückschritt gesehen wird.

 

Autonomie heißt für Cassano, seinen Weg alleine gehen, sich eigene Regeln setzten, aber auch Strenge gegenüber sich selbst.

 

Langsamkeit

 

Die zweite Bewegung des Mediterranen Denkens besteht in der Betonung der Langsamkeit als Wert, weil die unablässige Beschleunigung wesentliche Erfahrungsweisen des Menschen zerstört z.B. die Erfahrung der Liebe, Reflexion, Erziehung und Geselligkeit.

 

Auch hier geht es nicht um eine Fundamentalisierung der Langsamkeit, sondern um ein in-Frage-stellen der Verabsolutierung der Geschwindigkeit und die Möglichkeit, eine Vielzahl von Zeiten nebeneinander bestehen zu lassen. Fortschritt wird heute mit Beschleunigung gleichgesetzt, alternative Lebensweisen gelten dagegen fast immer als regressiv und nostalgisch. Die Tyrannei der Eile zerstört jegliche Form von Dauer, verabsolutiert die Gegenwart als einzig kontrollierbare Zeit und richtet Schaden am kulturellen und sozialen Gedächtnis sowie an generationsübergreifendem Wissen (Weisheit) an. Gedächtnis wird zu einem bloßen Hindernis, das die Flexibilität einschränkt.

 

Auch demokratische Werte geraten durch die ständige Beschleunigung in Gefahr. Cassano spricht von der Bereitschaft zur Diskussion, als wertvolle Tradition und erinnert an Platon, bei dem sich Tag für Tag Menschen zusammenfanden, um Themen wie Liebe, Tugend , Gerechtigkeit oder Regierungsformen zu diskutieren, eine Diskussion, die jeden Tag fortgesetzt wird also unendlich ist. Aktivisten der Langsamkeit sind für Cassano Sten Nadolny, Peter Handke, Wim Wenders, Werner Herzog, David Lynch.

 

Mediterraneo

 

Die Sichtweise des Mediterranen Denkens rückt das Mittelmeer geografisch wieder ins Zentrum der Landkarte. Dadurch wird aus einem Meer, das als blaue Grenze ein Land vom anderen trennt, ein Raum, der als Verbindung gedacht werden kann. Die Epoche der Nationalstaaten (als erste Moderne) und der Eurozentrismus sollen damit hinter sich gelassen werden.

Das soll keine Rückkehr zur antiken Geschichte sein sondern zeigen, was das Mittelmeer heute wichtig macht: seine Stellung als Schnittstelle, Vermittlungs- und Kontaktzone zwischen den Völkern. Der lateinische Begriff „ mare nostrum“ soll nicht als Besitzanspruch eines einzelnen Volkes formuliert werden, sondern als Plurales „wir“. Da, wo seit Jahrtausenden Ankünfte und Abfahrten miteinander abwechselten, gibt es kein monolithisches, ganzes „Wir“ das vor der Gefahr der Anderen in Schutz genommen werden müsste..“

 

Das plurale „wir“ versteht er als eine Gegenthese zu Reinheit, Integrität und Integralismus.

Das Mittelmeer ist ein Raum, der Völker bewegt und in Kontakt bringt, sowohl ihre Sprachen, Überzeugungen als auch ihre Vorstellungen von Zeit und Rhythmus. Andere Kulturen auf Rückständigkeit zu reduzieren ist eine Anmaßung, die der jeweiligen Tradition ihre Würde nimmt. Der Süden will keine Hilfe, sondern die Idee eines anderen Europas in dem es nicht nur den östlichen Teil eines atlantischen Imperiums darstellt.

 

Die Gefahr des Fundamentalismus existiert nach Cassano nicht nur in Form von Selbstmordattentätern, sondern auch in der Form eines aktiven Eurozentrismus, der die eigenen Prinzipien exportiert und die Andersartigkeit des Anderen auslöscht. Den Fundamentalismus des Islam versteht er als militarisierte Reaktion einer Kultur, die sich angegriffen fühlt. Das Mediterrane Denken dagegen ist eine entmilitarisierte Lesart der eigenen Tradition, die in anderen Traditionen ebenfalls neue Lesarten hervorbringen kann. Eine Tradition lässt von ihrem Integrismus ab, wenn sie sich nicht mehr bedroht fühlt.

 

Das Mass

 

Das Mass ist kein Mittelweg, sondern die Einnahme einer Position, die die Vielfalt unterschiedlicher Lebensweisen anerkennt und verteidigt. Es ist ein Kriterium, um Kulturen zu vergleichen, um konstruktive Spannungen und Beziehungen herzustellen zwischen den Prinzipien „Land“ und „Meer“. Das „Land“ symbolisiert Zugehörigkeit, soziale Bindung und Identität. Das „Meer“ steht für Abfahrt und individuelle Freiheit.

 

Der Westen erzählt vor allem die Geschichte der individuellen Freiheit, in der der Einzelne durch die Welt fährt, um Erfahrungen zu machen. Der Osten erzählt dagegen von sozialem Zusammenhalt und dem , was das Abenteuer des Ichs umgibt.

Der Weg des Südens trennt sich vom Spiel um die Macht zwischen Orient und Okzident und den asiatischen Werten, er trennt sich auch von der Erzählung des Wettbewerbs und des Hinterherlaufens. Wenn das gelingt, können auch in Orient und Okzident Kräfte aktiviert werden, die Beziehungen zu anderen offen und gastfreundlich leben können.

 

Säkularisierung des Südens

 

Unter der Überschrift Säkularisierung des Südens fragt Cassano : Sind wir wirklich reicher oder zumindest so reich wie es der Geldindex suggeriert? Es fehlt an öffentlichem gemeinsamen Besitz, an Mut, an Respekt vor Schönheit und vor Orten, von denen andere nicht ausgeschlossen werden können. Die sogenannte Freiheit bestehe vor allem aus Akten der Aneignung und dem Ausschluss anderer von privatem Besitz: unsere Kindheit war reich an öffentlichen Plätzen, Stränden, Feldern, Hügeln, wo wir glücklich waren, ohne uns hinter Mauern zu verbarrikadieren. Die Aporie des Reichtums besteht darin, dass die Armen zwar nicht mithalten können mit den Reichen, denen es immer gelingt andere auszuschließen. Dass die Armen aber, wenn sie immer mehr denken wie die Reichen, am Ende sogar den Stolz verlieren, nicht so zu sein wie sie. Es wird unmöglich sein, Geschäftsleuten Macht zu nehmen, wenn wir nicht den Unterschied zwischen der Erfahrung der Welt und ihrem Verkauf zum Superdiscount verstehen.

 

Er meint, dass es neben der alten Armut, die bleibt, eine neue Art von Elend und Erniedrigung gibt, die aus dem Traum resultiert, die Reichen imitieren zu wollen. Dieser Traum hat zum Tod von Gemeinschaft geführt, öffentliche Plätze in Müllhalden privaten Abfalls verwandelt und Glück ist gleichbedeutend mit privatem Wohlergehen geworden.

 

 

Der Süden als das fremde Andere des Nordens

 

Was der Süden Italiens trotz aller Unterschiede mit Afrika, Asien, der Karibik und Lateinamerika gemeinsam hat, ist dass sie an der Peripherie der Nordatlantischen Kultur liegen und dass sie das Andere des Westens sind. Es sind Quellen anderer Archive an Werten und Traditionen wie Langsamkeit, Kontemplation, Geselligkeit und Gastlichkeit. Mediterrane Formen von Austausch, Hybridität und Pluralität sieht er als Formen des Widerstands zu den Exzessen des Kapitalismus. Er fordert einen autonomen Weg in die Moderne nicht nur für den Süden Italiens oder die Mittelmeerregion, sondern den globalen Süden, dessen Kraft und Würde er wiederherstellen möchte. Man kann es als eine Rückkehr zu Europas mediterranen Wurzeln lesen, als Wiederentdeckung eines Raums, der totalisierenden Visionen von Kultur, Religion, Ethnie und Wirtschaft Widerstand geleistet hat.

 

Der südliche Gedanke bedeutet die Wiederentdeckung von Ressourcen jenseits von Wachstum.

 

"Wir können ihn entdecken in einer Verrücktheit, einem Schweigen, einer Pause, in der Tolpatschigkeit alter Menschen und von Kindern, in einer Bruderschaft, die weiß wie man Mitwisserschaft und Gewährenlassen vermeidet, in der Omertà einer Ökonomie, die soziale Beziehungen nicht verrät."

 

 

Das letzte Buch von Franco Cassano ( 1943 - 2021 ) nach seinem Tod posthum veröffentlicht heißt La contraddizione dentro, 2022 ( Der innere Widerspruch ).

Es versteht sich als eine Ermahnung zur ständigen Ausübung der Freiheit des Denkens.

Der Widerspruch ist vielleicht die schärfste Form der Erfahrung der eigenen Unzulänglichkeit und Unsicherheit, auch wenn die Erfahrung dieser Unzulänglichkeit und Unsicherheit bedeutet, dass man sozusagen im Herzen der Welt ist.

 

mehr zum Thema:

-> mehr zur Mittelmeerutopie im -> Blogartikel über Albert Camus

 

Die Aufwertung der südlichen Kultur kam von unten, meint Cassano. Es waren vor allem Filmemacher und Musiker, die begannen ein anderes Bild vom Süden zu verbreiten. Deshalb habe ich in diesem Artikel mal einen Blick auf -> das Kino Apuliens und des Mezzogiornos geworfen.

 

 

 


Der Südliche Gedanke

 

Beim italienischen Nord-Süd Konflikt geht um viel mehr als Lokalpatriotismus. Es geht um Unterschiede im Weltbild: den Gegensatz von protestantischer Rationalität und mediterraner Vernunft.

 


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