Der Südliche Gedanke

 

Beim italienischen Nord-Süd Konflikt geht um viel mehr als Lokalpatriotismus. Es geht um Unterschiede im Weltbild: den Gegensatz von protestantischer Rationalität und mediterraner Vernunft.

 


 

Kennt ihr den Witz? "Warum sind die Italiener alle so klein?"  "Weil man ihnen gesagt hat: Wenn ihr groß seid, müsst ihr arbeiten gehen." Erst waren es die faulen Italiener, dann die faulen Griechen. Vielleicht ist es an der Zeit, die Sache mal umzudrehen.

 

Ich hatte das große Glück, schon als Kind oft am Mittelmeer Urlaub machen zu dürfen. Als ich älter wurde, hatte ich am Mittelmeer jedes mal das Gefühl, ein ganz anderer Mensch zu sein. Das lag an der Sonne, dem Meer, der Sinnlichkeit, der Schönheit, dachte ich.

Ich war in Jugoslawien, Griechenland, Nordspanien, Mallorca, Ibiza, kannte weite Teile der Küste Südfrankreichs, der Küste von Ligurien und der nördlichen Adria, bevor ich nach Apulien kam. Und hier hatte ich dann dieses merkwürdige, fast etwas mystische Gefühl, dass mich dieses Land, diese Landschaft an etwas erinnert, was ich verloren habe oder nie hatte.

 

War Apulien so anders? Vielleicht war ich vorher nie weit genug in den Süden gereist?

Durch das Buch „Italien. Ein Kompass durch das geliebtes Chaos.“ von Gianluca Falango bin  ich auf die Palmengrenze und den „südlichen Gedanken“ gestoßen. Die Palmengrenze ist keine wirkliche Grenze, sondern eine gedachte Grenze, die irgendwo unterhalb von Rom den Norden vom Süden Italiens trennt. Beim italienischen Nord-Süd Konflikt, schreibt Falango, geht um viel mehr als Lokalpatriotismus. Es geht um Unterschiede im Weltbild: den Gegensatz von protestantischer Rationalität und mediterraner Vernunft.

 

Das vergessene Vemögen des Südens

 

Franco Cassano ist Professor für Soziologie und Politik an der Uni Bari. Er schreibt in seinem Buch „Il Pensiero meridiano“ (Der südliche Gedanke, 1996), dass die westliche Kultur ihre Wurzeln im südlichen im Mittelmeer hat, wo sich seit Jahrhunderten verschiedene Kulturen gegenseitig beeinflussen. Diese Kultur beschreibt er als eine Kultur der Langsamkeit, der Lebensweisheit, der spontanen Solidarität und des kulturellen Kompromisses. Im Laufe der letzten Jahrhunderte habe sich der Westen immer mehr davon entfernt und Werte wie Effektivität, Schnelligkeit und Profit in den Mittelpunkt gestellt. Vor allem im südlichen Mittelmeer seien Spuren dieses alten Kultursystems, das vom Norden als rückständig bekämpft wird, aber noch vorhanden.

 

Für Cassano wäre eine Aufwertung der südlichen Kulturen eine Möglichkeit, den Westen aus einer Lebensweise herauszuführen, die geprägt ist von krank machender Beschleunigung, Umweltzerstörung und der Ökonomisierung aller menschlichen Beziehungen. Der der Süden biete ein vergessenes Vermögen und eine Chance zur Umkehr.

 

Cassano war nicht der erste, der diesen Gedanken hatte. Bereits nach dem Schock des 1. Weltkriegs gab es Versuche, Europa vom Süden her neu zu denken und von diesem Denken ein neues Menschenbild abzuleiten. Dazu gehörte die sogenannte "Schule von Algier", darunter auch Albert Camus. Wunderschön beschreibt Camus in Büchern wie „Hochzeit des Lichts“ die Städte und Landschaften Algeriens, in denen der Mensch eine Stillstellung erfährt und sich in Anbetracht des Lichts und der Ewigkeit des Meeres erkennt als eingebettet in diese Landschaft.

 

"Was wir in Algier lieben, gehört allen: das Meer an jeder Straßenecke, die Lichtfülle. Dieses Hingegebensein verspricht nichts und hält auch nicht mit Hoffnungen hin. Die Zärtlichkeit dieses Landes ist scheu und überwältigend zugleich."

 

 

Mittelmeerromantik? Mag sein, aber für Camus wurde in Algier auf alltäglicher Ebene ein menschlicher Anstand vorgelebt, den er selbst später auf philosophischer und politischer Ebene verkörpert. In ihrer Camusbiographie "Das Ideal der Einfachheit" bezeichnet Iris Radisch das mittelmeerische Denken trotz aller Skepsis als letzte verbliebene Utopie des 21. Jahrhunderts.

 

Begegnung mit dem Alltag in Apulien

 

Für viele Deutsche war und ist Italien das Sehnsuchtsland schlechthin: Kulturschätze, Naturschönheiten und das „dolce vita“ faszinieren uns Deutsche, andererseits interessieren wir uns weniger für die politische und soziale Wirklichkeit oder den Alltag der Italiener. Natürlich kann man das auch nicht von allen Urlaubern erwarten, die in erster Linie entspannen und dem Alltag entfliehen wollen. Trotzdem möchte ich Mut und Lust machen auf eine Begegnung mit der Kultur Apuliens. Ich meine damit weniger die Kulturschätze in den Museen, sondern die Alltagskultur der Menschen. Dazu gehören die Feste, das Essen, die Musik, die Traditionen, der Glaube, die Lebensart …

 

Allen Reisenden, die ein paar Brocken italienisch sprechen, empfehle ich, neugierig zu sein für Begegnungen. Aber auch wer ohne Italienischkenntnisse mit offenen Augen durch Apulien reist, wird einiges vom vergessenen Vermögen des Südens entdecken.

Und lasst euch einfach von dieser Landschaft, der Sonne und dem Meer berühren. Und nichts tun.

 

Weiterlesen:

 

->  kurze Zusammenfassung des Mediterranen Denkens nach Franco Cassano

 

-> Ausschnitt aus dem Essay "Das Mediterrane Denken" von Franco Cassano in der zeitschrift Letttre. Seine Bücher gibt es leider nicht auf deutsch.