Matera

 

Die Eröffnung von Matera Kulturhauptstadt 2019 ist der inoffizielle Anlass meiner Reise, aber der eigentliche Grund ist, dass das graue Berlin mir an Nerven und Nieren geht. Ich reise zum 10 mal nach Apulien. Mit meinen apulischen Gastgeber mache ich erstmal einen Spaziergang durch  einen Vorort von Bari. Bei einem älteren Herrn holen wir Kaminholz ab. Er sitzt mit seinen Freunden beim Kartenspiel, begrüßt mich ganz herzlich, als er mich wiedererkennt: „Schön dass du wieder da bist, dass ihr in Kontakt geblieben seit. Wir sitzen hier (zeigt in die Runde seiner Freunde) und erzählen uns immer die gleichen Geschichten, aber wenn jemand Fremdes kommt, passiert was Anderes. Bleibt im Austausch und kümmert euch nicht ums Geld.“ ist sein Ratschlag.

 

Die Fahrt von Bari nach Matera dauert angeblich eine halbe Stunde. Italienische und deutsche Uhren ticken nicht immer gleich: eine halbe Stunde italienische Zeit kann eine Stunde deutscher Zeit sein oder länger. Ich weiß das inzwischen und genieße die Uneile.

 

Das auf einer karstigen Hochebene gebaute Matera ist berühmt für seine Altstadt, die zu großen Teilen aus Höhlenwohnungen, den sogenannten Sassi, besteht. Hinter den Häuserfassaden aus maurischen Elementen, Barock und Renaissance verbergen sich noch zahlreiche Höhlen, die seit der Frühzeit bewohnt waren. Aus der Bronzezeit stammt auch das ausgeklüglte Bewässerungssystem aus Rinnen, Tunneln und Zisternen.

 

Bis in die 1950er Jahre waren die etwa 3000 Höhlenräume noch von ca. 15.000 Menschen bewohnt. Die Sassi waren nicht nur Wohn- und Schlafraum, sondern auch Stall für die Tiere. Schlechte hygienische Bedingungen führten Ende der 40er Jahre zum Ausbruch einer Malariaepedemie. Als Carlo Levi in seinem berühmten Buch "Christus kam nur bis Eboli" die ärmlichen Verhältnisse in Matera beschrieb, wurde die Stadt von der italienischen Regierung zum nationalen Schandfleck erklärt.

 

Zu Beginn der 60er Jahren begann die Umsiedlung der Menschen in Sozialwohnunen. Eine mehrere Jahrtausende alte Wohnkultur, in der Menschen auf engstem Raum in nachbarschaftlichen Verbünden lebten, fand damit ihr vorläufiges Ende. Gleichzeitig wurde Matera zur biblischen Kulisse für inzwischen 50 Filme, darunter Mel Gibsons „Die Passion Christi“, „Christus kam nur bis Eboli“ von Francesco Rosi und -> „Das Matthäusevangelium“ von Pier Paolo Pasolini, der hier die geheimnisvollen und präindustriellen Gesichter und Kulissen fand, nach denen er solange gesucht hatte.

 

Seit Mitte der 60er Jahren werden die Höhlenräume wieder restauriert und heute entstehen in den den Mehrzimmergrotten luxoriöse Appartements. Zu den Sehenswürdigkeiten zählen die barocke Kirche des heiligen Franziskus von Assisi und die Kathedrale von Matera im apulisch romanischen Stil. Es gibt an die 100 Höhlenkirchen, in denen nicht immer nur zu einem christlichen Gott gebetet wurde, z.B. die Felsenkirchen San Pietro Barisano, Cappuccino Vecchio, Cappuccino Nuovo und die Chiesa di Santa Maria dell' Idris oder auch Madonna de Idris genannt ( mitten in der Stadt). Am berühmtesten ist die Cripta del pecato originale ( die Krypta der Erbsünde), auch sixtinische Kapelle der Basilicata genannt. Die Stadt Matera gehört seit 1663 nicht mehr zu Apulien, sondern zu Basilika. Nur 15 km von der Grenze zu Apulien entfernt, sowie historisch und kulturell von Apulien geprägt, taucht Matera aber in fast jedem Reiseführer über Apulien auf.

 

Man muss sich das mal vorstellen, wenn man kann. Eine 9000 Jahre alte Stadt. In den meisten Artikel und Beiträgen, die ich zu Matera- Kulturhaupstadt Europas gefunden habe, wird vor allem eins thematisiert: die Erklärung Materas zum Schandfleck Italiens oder Matera als Kulisse für Bibelfilme. Ist Matera2019 nur ein Event für Touristen oder die wenigen Glücklichen, die sich Kulturgenuss leisten können, während die Einwohner Materas und der Basilikata mit viel elementareren Problemen zu kämpfen haben? Unter der Überschrift „Matera - Hauptstadt der Wüste“ ist in der lokalen Presse zu lesen, die größten Problem seien Emigration und Immigration. Italienische Familien werden getrennt, weil die Jugend auf der Suche nach Arbeit in den Norden ziehen. Afrikanische Immigranten fristen ein tristes Dasein in Ankunftszentren und werden als Tagelöhner ausgebeutet.

 

Hier ein Blick in das vielfältige Programm:  Matera Kultuhauptstadt Europas

 

 

 

 

Wie die Höhlenwohnungen von innen aussahen, rekonstruiert die ->Casa Grotta Vico Solitario.

 

Chiesa di Santa Maria dell' Idris

 

Die Chiesa di Santa Maria dell' Idris mit ihren wundervollen Fresken, die auf dem Felsen mitten in der Stadt thront, ist heute leider geschlossen. Stattdessen besuchen wir die Kathedrale von Matera, wo ich eine Krippe bestaune, die aus dem Fels herausgewachsen zu sein scheint.

 

Dunkel aber schön

 

Viele Gassen sind heute Abend menschenleer und wirken fast verlassen. Wir spazieren ziellos umher und fragen ein Pärchen, das uns entgegenkommt, wie es da unten ist. "Buio ma bello." (Dunkel aber schön). Und wir haben haben Glück: der Vollmond erhellt die Höhlen auf der unbebauten Seite der Gravina. Schwach zu erkennen sind die kleinen Wege, die an den unzähligen Höhlen vorbeiführen.

 

 

Für mich war Matera keine Liebe auf den ersten Blick, als ich im Sommer 2017 hier einen kurzen Rundgang gemacht habe. Aber jetzt mit mehr Ruhe und bei Mondlicht stellt sich ein Gefühl wie Demut ein. Demut gegenüber einer Kultur, die so ein Kunstwerk an Stadt geschaffen hat und gegenüber dem Mensch an sich, der hier gelebt, gelitten, geliebt, getauert und geträumt hat. War die antike Kultur vielleicht viel reicher an Schönheit, Weisheit und Toleranz gegenüber anderen?  Wird Matera nochmal 9000 Jahre erleben oder werden wir alle auf den Mond auswandern?

 

Matera offsite

 

Ich liebe es, mich im Labyrinth der Altsstadt zu verlieren, die weniger herausgeputzten Orte zu entdecken oder die Schriften auf den Mauern zu lesen. In den allermeisten Fällen sind es Liebeserklärungen. Das hier kann ich leider nicht übersetzen.

Tipps

Gelida Voglia
Hier gibt es eine große Auswahl an Gebäck und Süßigkeiten, Eis, Kaffespezialitäten sowie Torten auf Bestellung für besondere Anlässe. Außerdem Getränke mit Gerste, Ginseng, heiße Schokolade, Tees, Fruchtsäften. Waffeln, Crêpes, Brioches, Croissants zum Kombinieren oder Füllen mit dem Eis eurer Wahl.
Via del corso, 114

 

Casa del cinema
Ein kleines Filmmuseums, in der eine Abteilung Pasolinis Film "Das erste Evangelium Matthäus" gewidmet ist und Fotos von den Dreharbeiten zu " Die Passion Christi" zu sehen sind.

Via Vetera 34, Eintritt 1,50 Euro

 

Regionale Spezialitäten aus Matera

 

Die regionale Küche ist in Süditalien ein wichtiger identitätsstiftender Faktor der Kultur. Alle Regionen sind Stolz auf ihre traditionelle Küche und regionalen Produkte. Gerne wird die Geschichte erzählt, dass die McDonalds-Filiale in Altamura schließen musste, weil Fastfood keine Chance gegen das berühmte Brot aus Altamura hatte. Auch das Brot in Matera soll von besonderer Qualität und Geschmack sein. Vielen Rezepten merkt man an, das sie einer bäuerlichen, armen Kultur entstammen, die aus wenigen Zutaten, das beste zauberte. ( An den Küste dagegen ist frischer und roher Fisch häufiger zu finden). Die Zutaten sind oft einfach, die Zubereitung allerdings zeitaufwendig.

 

Hier einige typische regionale Spezialitäten aus Matera, die ihr am besten vor Ort genießt (wo Gemüse noch nach Gemüse schmeckt) oder aber zuhause nachkochen könnt. Einige Zutaten werdet ihr in Deutschland allerdings schwer auftreiben können.

 

- Pignata - Materianischer Lamm-Eintopf

- Crapiata – Hülsenfrüchte-Eintopf

- Cazzomarro- Roulade aus Lamminnereien

- Parmigiana alle materana – Auberginenauflauf auf Materianische Art

- Strazzate – Schoko-Mandel-Kekse

 

Sixtinische Kapelle des Felskunst

 

Die schönste aller Höhlenkirchen liegt knapp 30 Autominuten außerhalb der Stadt Matera in Richtung Metaponto: die Cripta del Peccato ( Kypta der Erbsünde). Sie wird auch die »Sixtinische Kapelle der Felskunst« genannt. Dargestellt ist der Sündenfall mit anderen Genesis-Szenen und einem Meer an roten Blumen. Ich finde sie wirkt so sinnlich wie ein Gemälde von Chagall. Hier Bilder der Crypta:

 

-> webseite Cripta del Peccato Originale

 

Gravina in Puglia

 

Ähnlich alt und ähnlich beliebt bei Filmemachern, aber kleiner und weniger berühmt ist - > Gravina in Puglia (etwa 30 km entfernt von Matera).