Von lungomare aus wirkt die verfallene Altstadt von Taranto, das legendäre Taras der Griechen, dem Untergang geweiht, aber wer sich ins Innere der Altsstadt wagt, wird eine quicklebendige Stadt entdecken, in der fliegende Fische, Seefahrer, Meerjungfrauen, afrikanische Gesichter, Madonnen und antike Helde nauf halb verfallenen Mauern gemalt sind.
Die Altstadt von Taranto liegt auf einer Insel zwischen dem mare piccolo und dem mare grande und ist nur durch zwei Brücken mit dem Festland verbunden. Viele Menschen hier leben noch vom Fischfang und von den Austernbänken des mare piccolo. Das Meer ist überall präsent: auch in den Bildern der streetart Künstler.
Ich hatte Taranto das erste Mal vor einigen Jahren im Winter im Regen gesehen. Damals kam es mir trostlos und morbide vor. Trotzdem hatte es einen unerklärlichen Eindruck hinterlassen, als hätte die Stadt ein Geheimnis, das es zu entdecken gibt. Als ich im Mai in Taranto ankomme, habe ich ein winziges aber zentral gelegenes Zimmer in einem Palast gemietet. Der Palazzo im Herz der Altsstadt stammt aus dem 17. Jahrhundert und wird seit mehreren Jahren in Gemeinschaftsarbeit von den Bewohnern renoviert wird. Im Innenhof befindet sich ein Coworking space. Häufig finden hier kulturelle Veranstaltungen, Konzerte oder Workshops statt.
Immer wenn ich durch die schwere Holztür des Palazzo auf die Straße trete, kommen mir Kinder entgegengelaufen: „Dov´è Teresa?“ (Wo ist Teresa?) fragen sie. Teresa engagiert sich in sozialen Projekten für Kinder und hat auch den Spitznamen "Mutter Teresa". Nach ein paar Tagen in Taranto frage ich Teresa, was diese Stadt für sie besonders macht. "Die Inselmentalität ist das besondere an Taranto", meint Teresa und fügt hinzu "wie auf Lampedusa." Ich weiß nicht genau, was Teresa damit meint, aber vielleicht gilt auch hier wie in Lampedusa das althergebrachte Gesetzt des Meeres: Flüchtlinge sind unter allen Umständen aus Seenot zu retten. In einer Radiosendung über das Mittelmeer habe ich gehört, dass es auf Lampedusa zu Demonstrationen kam, bei denen die Inselbewohner für die Migranten eintraten. Statt Abweisung und Rassismus gab es Szenen der Verbrüderung. Zwar kommen in Taranto nur wenige Flüchtlinge direkt mit Booten an, aber in einigen Bildern an den Fassaden drückt sich Solidarität mit den ihnen aus.
Viele Häuser in der Altstadt werden von Stahlträgern gehalten, um sie vor dem Einsturz zu schützen. Andere sind in gutem Zustand. Es gibt ein paar griechische Säulen und Mauern aus der Antike, eine Universität, ein Hostel, nur wenige Cafes und Restaurants, ein Luxushotel und viele kleine Lebensmittelgeschäfte. Und es weht ein Hauch von Anarchie und Poesie durch die Altstadt: knatternde Mopeds und spielende Kinder wuseln durch die Gassen, die Fassaden voller Bilder, streetart, Gedichten und anderen Botschaften. "Ich will ein Leben. Ich will es voller Ärger." steht an einer Mauer. An einer anderen einfach nur: " Unser Enkel ist geboren."
Die Altstadt ist bereits seit einigen Jahrzehnten zu große Teilen unbewohnt. Niemand scheint so genau zu wissen warum. Vielleicht hatte es ähnliche Gründe wie in der Höhlenstadt Matera. Die meisten Wohnungen waren in so schlechtem Zustand, dass die Einwohner in den 1960er Jahren in Neubauten umgesiedelt wurden. Heute ist ->Matera ein beliebtes Ziel bei Touristen. Taranto wird auch immer beliebter.
-> Mena Mena Mè, Via di Mezzo
Für das Abendessen empfehlen unsere Gastgeber "mena, mena, me" in der Via di mezzo, ein winziges Lokal fünf Minuten zu Fuß vom Palazzo entfernt. Wir sitzen in der lauen Sommerluft draußen an kleinen Holztischen und essen von Plastiktellern Frittura oder andere frische Fischgerichte (für ca. 8 euro inklusive Bier oder Wein). Bars und Nachtleben gibt es in der Altstadt kaum. Nur wenige Menschen flanieren am nahegelegenen lungomare entlang und Touristen scheinen sich kaum hierhin zu verirren.
- Der Dorische Tempel ( auch Poseidontempel ) stammt aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. und ist der älteste Tempel der Magna Graecia . Die Ruine des Tempels befand sich in der Dreifaltigkeitskirche (italienisch SS. Trinità), im Hof des Oratoriums der Trinitarier, im Haus Mastronuzzi und im Kloster der Celestini. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Tempel vom Archäologen Luigi Viola dem Gott Poseidon zugeschrieben. Andere sehen ihn in Beziehung zu weiblichen Gottheiten, wie z. B. Artemis, Persephone oder Hera .
- Das Castello Aragonese auch Castel Sant’Angelo In seiner mehr als 1000-jährigen Geschichte diente es nicht immer nur zur Verteidigung der Stadt, sondern wurde zeitweilig auch als Gefängnis genutzt. Heute kann man es besichtigen.
- ehemaliges Kloster San Francesco
- Palazzo Galeota aus dem Jahr 1728 mit kleinem Ethnographischem Museum
- Palazzo Fornaro mit Mittelalterlichem Museum
- Dom San Cataldo
Der Streit um Ilva hat immer wieder international für Schlagzeilen gesorgt. Das unweit von Taranto gelegene Stahlwerk Ilva ist das größte und schmutzigste Stahlwerk Europas. Die Menschen in der Umgebung leiden vermehrt an Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen, bösartigen Tumoren und Leukämie. Etwa 400 Menschen sollen an der Folgen der Umweltverschmutzung durch Ilva gestorben sein. Im Mai 2017 begann in Taranto der Prozess wegen fahrlässiger Tötung und schwerer Umweltverschmutzung gegen drei Gesellschaften des Stahlkonzerns und 44 Personen, darunter auch Nichi Vendola, ehemaliger Präsident der Region Apulien, und Nicola Riva, den Sohn des inzwischen verstorbenen Firmengründers Emilio Riva. Seit Jahren schwelt der Konflikt zwischen denen, die eine Schließung des Werks fordern und denen, die für den Erhalt von ca. 15000 Arbeitsplätzen kämpfen. Die Anti-Ilva-Aktivisten Tarantos haben sich in zahlreichen Vereinen organisiert. ( „Tamburi 9. Juli 1960“, „Peacelink“, „Annozero“ „Taranto Libera“).
So berichtete -> die tagsschau im Dezember 2020 unter der Überschrift "Tod der Arbeit ":
Das Stahlwerk von Taranto galt in den 60er Jahren als Wunder der italienischen Wirtschaft. Es brachte Arbeit und Wohlstand ins arme Apulien, aber auch viele gesundheitliche Probleme für die Anwohner. Studien belegen das. Lina hatte deswegen in Straßburg gegen die italienische Regierung geklagt, wegen Umweltverschmutzung und Gefährdung der Anwohner. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab ihr 2019 Recht.
Aber Ilva war nicht von Beginn an eine Fabrik des Todes. So schildert mir jemand, der in Taranto lebt und aufwuchs, die Entwicklung:
In den 1970er Jahren war Tarent eine prächtige Stadt, ein industrielles und militärisches Zentrum auf höchstem Niveau. 1964 hatte der Staat beschlossen, in diese strategische und antike Stadt
zu investieren, indem er die größte Stahlindustrie Europas (mit Zehntausenden von Arbeitsplätzen) und das Militärarsenal baute. Für eine Stadt im Süden war sie besonders wohlhabend: Es gab keine
einzige Familie in Tarent, die nicht ein staatliches Gehalt von Ilva oder der Marine erhielt, und dazu kamen noch der Fischfang und die Produktion von Muscheln aus Tarent, ein sehr geschätztes
typisches Produkt, das in ganz Italien vertrieben und verkauft wurde. In den 1990er Jahren wurde uns klar, dass wir vielleicht Opfer eines Bluffs geworden waren. Ilva, das bereits nach wenigen
Jahren veraltet war, wurde an skrupellose Geschäftsleute aus dem Norden verkauft, die es in eine Fabrik des Todes verwandelten. Die Marine verschlingt schließlich die gesamte Stadt, so dass es
bis heute eine Grenzmauer, "il muraglione" genannt, gibt, die es nicht erlaubt, das Meer von einer Seite der Stadt aus zu sehen (dennoch wird sie als "Stadt der zwei Meere" bezeichnet und kann
nur die Hälfte davon sehen).
Und so erklärt sich vielleicht auch, warum die Altstadt von Taranto verlassen wurde. Man war stolz am industriellen Fortschritt teilzuhaben und die Neusstadt war ein Symbol der Moderne. Tatsächlich habe ich auf dem Dachboden eine Postkarte von Taranto von 1984 gefunden. Damals präsentierte Taranto sich so: im Vordergrund die moderne Neustadt, im Hintergrund kaum zu sehen die Altstadt.
Die Neustadt mit ihren großen Einkaufstraßen hat auf mich zwar keinen so geheimnisvollen Reiz ausgeübt, aber ein kleiner Bummel lohnt auch hier. Schön schattig ist der lungomare der Neustadt. Wer ein bißchen in der Sonne dösen oder sich kurz abkühlen möchte, legt sich an den kleinen Strand, der im Mai noch sehr wenig besucht ist. Am nördlich gelegenen lungomare gibt es auch einen kleinen, schattigen Park.
Nationales Archäologisches Museum MarTa, eines der wichtigsten Museen Italiens stellt die Geschichte Tarantos von der Prähistorie bis ins Hochmittelalter dar. Zu sehen sind die berühmten Ori (Goldarbeiten), Grabbeigaben der Nekropolis, Fussbodenmosaike aus öffentlichen und privaten Gebäuden der Kaiserzeit und die Pinakothek mit wichtigen Gemälden aus der neapolitanischen Schule.
- griechisch-römische Nekropolen
Die etwa 160 Gräber aus griechisch-römischer Zeit zeugen von einem ausgeprägten Totenkult und sind an sieben verschiedenen Standorten zu finden. Es können verschiedene Grabtypen unterschieden werden: Kammergräber und Halbkammergäber, die von aristokratischen Familien verwendet wurden, Felsengräber, die mit einem Felsblock verschlossen waren und von Plebejerfamilien benutzt wurden.
- Krypta des Erlösers (ital.: Cripta del Redentore) ist eine antike Grabkammer. Sie besteht aus einer kreisförmige Grotte von etwa 8 m Durchmesser, deren Wände mit wertvollen Fresken aus dem 12. Jahrhundert verziert sind. Sie kann leider nicht besichtigt werden.
- Konkathedrale
-> Tipp: Karma caffe, Via Vincenzo Pupino
Am lungomare der Altstadt stellt eine 140 m² große Keramiktafel der Künstlerin Silvana Galeone eine Legende über den Ursprung Tarents dar. Diese ist inspiriert vom Mythos des spartanischen Helden Phalantos und einer überlieferten Antwort des Orakels von Delphi: „Wenn es bei heiterem Himmel regnet, wirst du neues Land und Stadt erobern.“ Als Phalantos an Bord auf einer langen Reise in Richtung Japygien (heutige Apulien) fuhr und seine Frau Aithra (griech.: heiterer Himmel ) weinen sah, meinte er, das Orakel habe sich bewahrheitet. So gründete er, der Überlieferung zufolge, seine Stadt und nannte sie Satyrion.
Ein Leser schrieb mir kürzlich, so etwas Magisches wie Taranto habe er nur in der Bronx oder in Asien gesehen. Mich hat Taranto an Neapel erinnert, so wie Pasolini es beschrieb. Pasolini verglich die Neapolitaner mit dem Stamm der Tuareg, der statt in der Wüste im Bauch einer großen Stadt lebt und sich der Geschichte verweigert.
In den letzten Jahren aber hat Taranto was den Tourismus angeht aufgeholt und das historische Zentrum macht neue Entwicklungen durch: die unkontrollierte Entstehung von Bed-and-Breakfasts,
die den Einwohnern die Möglichkeit nimmt, Häuser zu mieten, um darin zu wohnen.
Fast wie ein Deja-vu... Warum die Altstadt fast unbewohnt ist, habe ich bei meiner letzten Reise 2023 erfahren. Nach dem Bau von Ilva, wurden die Arbeiter in Neubauviertel nahe der Fabrik umgesiedelt ( nicht in die Neustadt, die auf der Postkarte zu sehen ist). Eines dieser Viertel heißt Tamburi. Mena Mena Me existiert noch, wurde aber während Corona zum Lebensmittelladen umgestalttet und soll bald auch wieder Restaurant sein.
-> mehr Bilder aus Taranto 2023
Am 19.1.2023 startet der Dokumentarfilm TARA, den Volker Sattel und FrancescaBertin in Taranto gedreht haben, im kleinen Umfang in den deutschen Kinos. Tara ist ein Fluss am Stadtrand von Taranto, dessen Wasser heilende Kräfte zugeschrieben wird. Das Baden in ihm hat bei den Einwohnern der Stadt Tradition. Ausgehend von diesem idyllischen Ort nehmen uns Volker Sattel und Francesca Bertin mit auf eine Reise durch ein Gebiet, in dem Mythen mit der Realität kollidieren und in dem der sogenannte Fortschritt einen hohen Tribut an Natur und Gesellschaft gefordert hat. Ein Film über wundersames Wasser, ein toxisches Stahlwerk und Menschen, die nicht aufgeben.
Der Film spielt ebenfalls in Taranto und ist inspiriert von dem stadtbekannten Junkie 50 Centesime. Maria will ihrem drogenabhängigen Bruder Donato helfen, der wegen Schulden mit dem Tode bedroht wird. Dafür plündert sie in der Kirche den Opferstock für die Prozession.
( 30 min / Original mit englischen Untertiteln, aber es wird nicht viel gesprochen)
In Fireworks ( 2010) bildet ein Neujahrsfeuerwerk den symbolischen Höhepunkt eines politischen, widerständigen, zwischen Wunschtraum und Realität zu verortenden Filmessays, der letztlich in eine mehr cinematografische als pyrotechnische Zerstörung mündet. «In Taranto spielen manche Leute Revolution. Und wie alle Kinder meinen sie das Spiel ernst.» (Abbruzzese)
Zwei italienische Regisseurinnen erzählen von den Veränderungen, die sich in ihrer Heimat, Apulien, vollzogen haben. Archivmaterial, das Cecilia Mangini vor 50 Jahren gedreht hat, interagiert mit Bildern der Gegenwart. Dabei geht es auch um Taranto und den Streit um Ilva.
Cecilia Mangini, geboren 1927 in Mola di Bari war Dokumentarfilmerin, Drehbuchautorin und Fotografin. Sie arbeitete oft mit ihrem Mann Lino Del Fra, aber auch anderen italienischen Intellektuellen wie Pier Paolo Pasolini zusammen und starb 2021.
Bekannt ist Taranto wegen seiner Osterrituale während der -> Settimana Santa und der Name der Stadt stand Pate für -> Tarantismus und Tarantella, den Tanz der kleinen Spinne.
außerdem:
Meeresprozession "Stella Maris"
Palio von Tarent
Erinnerung an die Hochzeit von Maria d’Enghien (1. Samstag im Mai)
San Cataldo ist der Schutzpatron der Stadt und wird vom 8.-10. Mai gefeiert
Jahrestag des Christus des Meeres
Internationale Tanzwoche Taranto Danza
Internationaler Kongress über Großgriechenland
Italienisches Festival der Küche mit der Tarenter Miesmuschel
Tarenter Filmfestival
Internationales Festival des Karnevals