Über wilde Fauen und mythische Monster.
Mit Ernesto de Martino auf den Spuren des Tarantismus
Zugegeben als ich die Szenen aus dem Film "La Taranta" in Galatina zum ersten mal sah, musste ich spontan an den Horrorfilm der Exorzist denken. Aufgenommen wurde der Film vom italienischen Religionshistoriker Ernesto de Martino während einer Forschungsreise 1959 in Apulien. Er brach mit einem Psychiater, einem Psychologen, einem Ethnomusikologen und einem Soziologen auf, um ein Phänomen zu untersuchen, das sich als eine Art Besessenheit und Tanzwut äußerte und scheinbar mit exorzistischen Ritualen ausgetrieben wurde. Tarantismus trat als Folge von Spinnenbissen erstmals in der Nähe der apulischen Stadt Tarent auf und befiel vor allem Frauen. Typische Symptome waren Übelkeit, obzönes Verhalten, rasende Wut, Apathie, Erschöpfung.
De Martinos Forschungsreise zeigte, dass der Tarantismus, der seit dem 17. Jahrhundert als Krankheit der ungebildeten, abergläubigen Bevölkerung galt, eine durchaus wirksame Heilbehandlung seelischer Krisen durch Tanz, Musik und Farben war. Kein Aberglaube und kein Hokuspokus, für De Martino gehorcht der Tarantismus schlicht einer anderen Logik als der der Naturwissenschaften: der Symbollogik des Mythos.
Die mythische Tarantel, deren Biss in Wahrheit wenig giftig ist, wurde aus symbolischen Gründen ausgewählt, wegen ihres Aussehens und ihrer Gewohnheiten: sie war haarig und hatte Kieferfühler, schon ihr Anblick erzeugte Gefühlsaufwallungen, sie sprang ihre Opfer an und hauste in dunklen Höhlen. Sie war demnach gut geeignet, den dunkeln Trieben des Unbewußten einen symbolischen Horizont zu verleihen.
Die Tarantel stellt ein mystisch-rituelles Symbol dar, in dem ungelöste Konflikte, die im Unbewußten vergraben sind, aufscheinen. Tarantella ist der Tanz der kleinen Spinne, indem diese Konflikte eine Gestaltung erfahren. Die böse Vergangenheit, Gewissenspein oder -bisse werden auf ein mystisches Monster, die Spinne, projiziert und der Körper kämpft gegen dieses Monster an, bis es tot ist.
Der rituelle Charakter des Tarantismus bestand nun darin, die für die Betroffenen richtige Musik zu finden, die die schuldige Tarantel solange zum Tanzen bringen würde bis sie müde wird und zermalmt werden kann. Die Taranteln hatten Menschennamen wie Rosina, Peppina, Antonietta. Es gabt Tanz- und Singtaranteln, aber auch traurige und stumme Taranteln, die nur auf Totenklagen und melancholische Gesänge reagierten. Es gab stürmische Taranteln, ausschweifende Taranteln, Schlaftaranteln, die der musikalischen Behandlung widerstanden. Immer waren die Tarantierten Opfer und Heldinnen zugleich, sie identifizierten sich mit der Spinne und besiegten sie.
Wurzeln und Symbolreichtum des Tarantismus
Der Tarantismus hat seine Wurzeln im Mittelalter (ca . 11. Jahrhundert) zur Zeit der Ausbreitung des Islams und dem Gegenstoß des Westens. Apulien wurde ein Ort des Zusammenstoßes unterschiedlicher Kulturen und dann Ausgangszentrum für Einschiffung ins Heilige Land. In dieser Zeit wurden Spinnenbisse zur Massenerscheinung und zwar unter Männern in den christlichen Heeren.
Die Tanzepedemien des Mittelalters versuchte die Kirche überall in Europa durch kanonischen Exorzismus zu disziplinieren. In Nordeuropa hatte sie damit durch die Aufpfropfung christlicher Feste Erfolg, in Apulien entstand der mystisch-rituelle Symbolismus der Tarantella, bei dem die Heiligen zunächst etwas abseits blieben. Zuvor hatte das Christentum im Bereich der orgiastischen und maenadischen Kulte bereits Zerstörung angerichtet, schreibt De Martino. Besonders in der weiblichen Welt gab es keine Möglichkeit mehr Bedürfnisse auszudrücken, die in diesen Kulten zum Ausdruck kamen.
Die Blütezeit des Tarantismus war im 16. und 17 Jahrhundert mit viel reicherem Symbolismus als heute: es gab Schwertertänze, Spiegelzauber, Quellen- und Baumszenerien, die paradiesische Landschaften heraufbeschworen. Manche Tarantierte wurden in einem Kahn gelassen, mit einer kleinen Kapelle an Bord, die das Boot im richtigen Rhythmus zum schaukeln zu bringen versuchte, begleitet von Gesängen, die von der Sehnsucht nach dem Meer getragen wurden.
Erst seit mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert begann man den Tarantismus mehr und mehr als Aberglauben und Fanatismus der ungebildeten Volksmassen zu sehen. Er galt von nun an als Krankheit der Einbildungskraft und der Unwissenheit. Ende des 18. Jahrhundert begann der Kult des Heiligen Paulus die Reste des salentinischen Tarantismus zu zersetzen, weil die Kirche sich von dem Wiederaufkommen heidnisch-orgiastischer Kulte bedroht fühlte,.
Der Tarantismus war eine häusliche Kur, bei der Angehörige aus Solidarität mit den Tarantierten häufig mittanzten. Er war eine Möglichkeit für Frauen, aus ihrem Alltag auszubrechen, ein Ausbruch, der nicht gleich als Wahnsinn deklariert wurde, sondern von der Dorfgemeinschaft akzeptiert wurde. Erst durch den Kult des Heiligen Paulus in der Kapelle in Galatina, in der Musik und Tanz als reintegrierende Elemente fehlten, blieb vom Tarantismus nichts als die nackte Krise. Das Video zeigt die Agonie des apulischen Tarantismus: die Tarantierten erlebten Schiffbruch, weil es keinen Beschwörungs- und Entspannungsschutz gab wie bei der häuslichen Kur. Der Tarantismus, so de Martinos Schlussfolgerung, war ein mystisch rituelles Symbol zur Bändigung einer Krise und wurde erst unter dem Druck der christlichen Symbolwelt zur Krankheit.
Die Chiesa San Paolo in Galatina heute: Tanzen verboten
" Es ist absolut verboten im Inneren dieser Kirche zu tanzen und/oder auf den Altar heraufzuklettern. Jede historische Erinnerung und Wachrufung des Tarantismus ist nur draussen möglich."
Und so sieht sie also aus, die Chiesa San Paolo in -> Galatina . Nachdem ich soviel darüber gelesen habe, wollte ich sie mal mit eigenen Augen sehen und hätte sie beinah nicht gefunden, weil sie so unscheinbar ist. In Galatina gibt es auch ein Centro Studi sul Tarantismo e Costumi Salentini ( Nahe der Piazza Dante Allighieri).
Viele Elemente der Tarantelkur finden heute einen Platz in modernen Therapien, wie Tanz-, Musik-, Kunsttherapie, in der Psychchoanalyse nach C.G. Jung, der davon ausging, dass der archetypische Symbolgehalt von Mythen und Märchen heilsame Kräfte wecken kann oder auch in der Traumatherapie nach Levine, in der es darum geht den "Tiger zu wecken", um im Körper eingefrorene Energie abfließen zu lassen.
Heute ist die Tarantelkur aus Apulien verschwunden, lebt als musikalische Tradition zumindest in der "Notte della Taranta" weiter.
->Offizielle Webseite der Notte della Taranta
Thomas Hauschild in Lukanien
Der deutsche Ethnologe Thomas Hauschild führte in den 80er Jahren Feldforschungen in Lukanien ( heute Teile von Basilikata, Kalabrien und Apulien ) durch, um die Physiologie, Soziologie und die Poltitik des Heiligenkultes um San Donato, Schutzheiliger der Epileptiker, zu untersuchen. Für Hauschild gehen die in Lukanien beobachteten Symptome der Kranken genauso wie heutige Erschöpfungszustände und Infarkte auf den von Wilhelm Reich beschrieben Urgegensatz des Lebens von Emission ( Kotzen) und Depression zurück.
Das Wissen der Lukaner, so Hauschild beschränkt sich in der Krise nicht auf den Stoffwechsel im Menschen, sondern auch auf Tauschbeziehungen zwischen den Menschen. Traditionelle Kulturen haben Erfahrungen entwickelt, wie der Einzelne mit der Gruppe in Kontakt kommt, z.B. durch Geschenke, gemeinsames Essen, Reinigungs- und Trauerrituale, kollektive Trancen oder Prozessionen. Sie entwickelten Rituale, die es bis ins 19. Jahrhundert in weiten Teilen Europas gab. Dann wurden Kotzen und Depression zu einer Privatangelegenheit oder in die Irrenhäuser verbannt. (Man denke an die Hysterikerinnen.)
Interne Links zum Thema:
-> Pizzica, Tarantella und die Band TerraRoss
-> Magische Rituale und böser Blick
Literatur:
"Der besessene Süden", Ernesto de Martino und das andere Europa, Tumult, 2016.
Ernesto de Martino (1908-1965) war ein italienischer Ethnologe, Geschichtsphilosoph und Religionshistoriker, der mit seinem Denken eine Möglichkeit geschaffen hat, den angeblich zurückgebliebenen Süden in einem anderen Licht zu sehen.
Magie und Macht in Italien. Über Frauenzauber, Kirche und Politik. von Thomas Hauschild, Merlin Verlag, Gifkendorf 2002.
Anfang der 80er Jahre begann Thomas Hauschild seine ethnologische Feldforschung in Ripacandida / Lukanien. Die "magischen" Strukturen sind so stark, dass sie als elementare Form des religiösen Lebens noch bis heute weiter bestehen. Hauschilds ethnologische Studie wird zur Kirchen- und Kulturgeschichte er deckt Machtstrukturen hinter den Praktiken der Heilerinnen und Heiler auf: Die Eliten beziehen ihre Macht vor allem aus den Anstrengungen der Frauen. ( aus dem Klappentext )