Im offiziellen Wettbewerb der Berlinale 2020 liefen drei italienische Filme: Favolacce ( Silberner Bär bestes Drehbuch), Volevo nascondermi ( Silberner Bär bester Schauspieler ) und Siberia. Außerdem zu sehen: Semina il vento ( aus Apulien) , Palazzo di Giustizia, Pinocchio, La casa dell’amore. Und nach der Berlinale hoffentlich alle Filme im Kino um die Ecke.
Bei der Eröffnungsfeier der Berlinale 2020 gab es einer Schweigeminute für die Opfer des rassistisch motivierten Attentats in Hanau. Vielen war nicht zum feiern zumute und mir war in diesen Tagen auch nicht wirklich danach zumute, einen Artikel über Polignano zu schreiben, wie ich es eigentlich vorhatte. Stattdessen also jetzt dieser etwas eilig zusammengestellte Artikel über das italienische Kino bei der Berlinale 2020.
„Unter allen existierenden Medien ist es allein das Kino, das in gewissem Sinne der Natur den Spiegel vorhält und damit die Reflexion von Ereignissen ermöglicht, die uns versteinern würde, träfen wir sie im wirklichen Leben an." ( Siegfried Kracauer )
Nach dem Verbot seiner Schriften durch die Nationalsozialisten emigrierte Kracauer über Frankreich in die USA, wo seine filmsoziologischen Hauptwerke entstanden: „ Von Caligari zu Hitler“ und „Theorie des Films“.
Geht ins Kino. Es ist ein Publikumsfestival.
Semina il vento ( Wind säen)
Angesiedelt in Apulien nahe Europas größtem Stahlwerk, Ilva, ist der Film eine Ode an den ländlichen Raum und legt den Finger in eine Wunde unserer Zeit. Eine junge Agrarwissenschaftsstudentin kehrt nach langer Abwesenheit in ihr Elternhaus in Apulien zurück, wo die von einem Insekt befallenen jahrhundertealten Olivenbäume keine Früchte mehr tragen. Vor der Kulisse des katholischen Landes verwebt der Film Modernität und Tradition, Rebellion und Konservatismus, Wissenschaft und heidnischen Glauben. Von Danilo Caputo mit Yile Yara Vianello, Feliciana Sibilano, Caterina Valente, Espedito Chionna. Caputo ist Jahrgang 1984 und stammt selbst aus einem Dorf in Apulien. Scheinbar gibt es keinen Trailer zum Film. Hier ein kurzes Interview von der Berlinale (italienisch).
Im offiziellen Wettbewerb der Berlinale laufen drei italienische Filme: Favolacce, Volevo Nascondermi und Siberia:
Favolacce ( Bad tales)
In Rom leben einige Familien scheinbar fernab von allem. Es herrscht eine Stimmung, die jederzeit explodieren kann. Den Kollaps führen die Kinder herbei. Der Film wird auf der Berlinale uraufgeführt und läuft im offiziellen Wettbewerb. Dem Trailer nach ein unheimlicher Film, der zwischen Sozialdrama und Horror angesiedelt scheint. Die Kritik meint: ein wildes, erstaunlich reifes Werk. V
Volevo nascondermi ( deutsch: Ich wollte mich verstecken )
Der Film erzählt die Geschichte von Antonio Ligabue ( 1899 - 1965), einem revolutionären Einzelgänger der modernen Kunst. Der Sohn einer italienischen Auswandererin wird nach deren Tod von einem Ehepaar in der Schweiz adoptiert, aber wegen körperlicher und geistiger Leiden ausgewiesen und nach Italien gebracht. In Italien lebt er jahrelang in bitterer Armut und ohne festen Wohnsitz wie ein Wilder in einer mit Lehmskulpturen vollgestopften Hütte im Wald am Po-Ufer. Regisseur Diritti erzählt mit Leidenschaft von Ligabues Kunst, die für ihn die einzige Möglichkeit ist, seine Identität zu entwickeln. V
"Sie haben keine Arbeit und keine Ehefrau. So können sie nicht zum Wachstum des faschistischen Italien beitragen". Das sind die ersten Sätze des italienischen Trailers.
Siberia
Altmeister Abel Ferrara zähle ich jetzt einfach zu den italienischen Filmemachern, auch wenn er in der Bronx geboren wurde. Siberia erzählt von einem gebrochenen Mann, der sich aus der Welt in eine Höhle zurück zieht und sich einer radikalen Konfrontation mit Träumen, Erinnerungen und dämonischen Visionen stellt. Die Kritik meint: In der Kinogeschichte gab es viele Versuche, das Mythische als Intimes, das Radikale als Persönliches zu erzählen. So wild-anarchistisch, metaphysisch-geheimnisvoll, gottbesessen und wahrheitsfanatisch ist aber nur einer: Abel Ferrara.
In den 1980er- und 1990er-Jahren feierte er internationale Erfolge u. a. mit King of New York, Bad Lieutenant, The Funeral und The Addiction. Mit seinem Weggefährten Willem Dafoe drehte er zuletzt das Biopic Pasolini. Sieberia
Palazzo di Giustizia
Auf dem Flur eines Gerichtsgebäudes warten zwei Mädchen das Ende eines Prozesses ab, der ihre Familien betrifft. Die Kritik meint: Feinfühlig und vielschichtig zeigt Chiara Bellosis Spielfilmdebüt die Nachwirkungen eines Delikts. V
Pinocchio
Der Film hält sich treu an die berühmte Geschichte von der Holzpuppe, die auf Wunsch eines armen, einsamen Tischlers zum Leben erweckt wird, aber ihre Menschlichkeit erst erwerben muss. Pinocchio bewegt sich in einer Welt, die real und fantastisch zugleich ist – ein ländliches, der Zeit enthobenes, unverkennbares Italien, das nach Erde, Meer und Bauernhof riecht. V
La casa dell’amore ( Haus der Liebe)
Bianca ist transsexuell, Prostituierte und verbringt ihre Zeit in einer kleinen Mailänder Wohnung. Die Kamera folgt ihr in diese Welt: Telefonate mit Freiern, Philosophie, Sex und Zigaretten, Freunde singen, Gespräche mit der Freundin, die weit weg ist. Die Kritik meint: „Die Zärtlichkeit erzählt immer von neuen Dingen“, könnte man das Zitat von Sandro Penna übersetzen, das diesem Film als Motto dient. Denn Biancas Einladung in ihre Welt gilt vor allem jenen, die ihre Geschichten nur hier erzählen können. V
mehr Infos zu den einzelnen Filmen, Kinos und Terminen auf der offiziellen -> Webseite der Berlinale
Zum Abschluss: ein Film, der nicht italienisch ist, aber mir sehr am Herzen liegt. Endlich eine Hommage an den viel zu früh verstorbenen Christoph Schlingensief!
Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien
2020 wäre Christoph Schlingensief 60 Jahre alt geworden. Bettina Böhler erzählt in zwei Stunden und ausschließlich aus Archivmaterial sein Leben und sein Werk. Bettina Böhler hat zwei der wichtigsten Filme von Christoph Schlingensief, TERROR 2000 und DIE 120 TAGE VON BOTTROP geschnitten. V
Mit seinen „Heimatfilmen“, Aktionen und Interventionen in Theater, Fernsehen, Oper und Kunst hat der Regisseur Christoph Schlingensief über zwei Jahrzehnte den kulturellen und politischen Diskurs in Deutschland mitgeprägt und sich schon früh mit Ausländerfeindlichkeit beschäftigt. Die Gründung der Partei Chance 2000, kann als Versuch gesehen werden, die Grenze zwischen Kunst und Politik zu verwischen. Der mediale Höhepunkt war die Einladung zur Aktion Baden im Wolfgangsee. Hierzu lud Schlingensief alle sechs Millionen deutschen Arbeitslosen zum Baden im Wolfgangsee ein, an dessen Ufer Helmut Kohls Ferienhaus stand. Im Jahr 2000 installierte Schlingensief im Rahmen der Wiener Festwochen einen Container, der als Vorbild die Fernseh-Show Big Brother hatte und in dem sich Asylsuchende befanden. Durch Abstimmungen konnte das Publikum entscheiden, welcher Teilnehmer den Container und das Land verlassen musste. Das Projekt wurde unter dem Namen Ausländer raus! Schlingensiefs Container bekannt.
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