Pantheon del Gargano

 

"Dies ist der erste einer Reihe von Tempeln, die lokalen Gottheiten gewidmet sind, Halbgöttern mit menschlichen Eigenschaften und Fehlern, die jedoch von einer mystischen Aura umhüllt sind. Die ausgewählten Orte liegen abseits der ausgetretenen Pfade, wunderschöne Orte, die den meisten Menschen leider kaum bekannt sind, alle am Gargano gelegen, einem heiligen Vorgebirge der Natur und Land der Mythen und Legenden. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe: Wir sollten wieder den Menschen in den Mittelpunkt stellen." ( Alessandro Tricario)

 

Peppino lächelt nicht. Er lächelt nicht das faltenreiche Lächeln der Vollkommenheit, das D.H.Lawrence in seinem Gedicht „ Schönes Alter“ beschrieb, dieses Lächeln, das uns auch in den Gesichtern der Menschen, begegnet die Alessandro Tricario fotografiert. Peppino hat die Augen niedergeschlagen. Sein zerfurchtes Gesicht bedeckt die zweistöckige Gebäudefassade einer Ruine nahe des Lago di Varano:  das Abbild eines einsamen Helden mit dem langen weißen Bart sorgenvoll, fast grimmig.

 

Peppino und ist Trabucco - Fischer aus dem nehegelegenen Peschichi im Gargano. Der Fotograf hat ihn in seinem Projekt Pantheon del Gargano zu Poseidon gemacht: „ Er ist Peppino, Gott des Meerschaums, der Sterne und Beschützer der Muränen. Nachtgott, fähig zu großer Barmherzigkeit und furchtbarer Rache. Ausgestattet mit übermenschlicher Kraft, kann er mit einer Liebkosung die Wolken hinwegfegen und Flutwellen verursachen. Wenn er jedoch lächelt, werden die Zikaden in den Olivenhainen zum Schweigen gebracht.“

Auch der griechische Gott Poseidon wird häufig als unbrechenbar, ungestüm, grimmig beschrieben – ein Meeresgott, den man um gutes Wetter bitten oder besänftigen musste. Er wird vor allem von den Seefahrern verehrt.Tempel für Poseidon gibt es in Rhodos, Korinth.

 

Die Idee, Gottheiten mit den Gesichtern gewöhnlicher Menschen darzustellen, hatte Tricario während des Shutdowns in Italien. Die Orte, des Projekts Pantheon del Gargano liegen abseits der touristischen Routen des Gargano. Der Gargano ist ein Vorgebirge mit bis zu 800 Meter hohen Bergen, dessen Küste überwiegend felsig und steiler ist als die übrige Küste Apuliens und voller Mythen und Legenden steckt. Tricario ist Fotograf und Streetartist. Er stammt selbst aus dieser Gegend, in der zwei der berühmtesten Pilgerstätten Italiens liegen. Das Grab Heiligen Padre Pios in San Giovanni Rotondo ist mit ca. 7 Millionen Besuchern pro Jahr nach Rom die meistbesuchte Pilgerstätte Italiens. UNESCO-Weltkulturerbe ist die Michaelsgrotte in der Ortschaft Monte Sant´Angelo, wo im 5. Jahrhundert der Erzengel Michael erschienen sein soll. Dei Geschichte des Gargano ist aber ebenso reich an heidnischen Riten und Gottheiten, die erst im Laufe der Zeit durch christliche Kulte ersetzt wurden.

 

Der Lago di Varano ist der größte See in Süditalien (60,5 km²). Er ist durch eine 10 km lange sandige Landzunge von der Adria getrennt. Auf der Landzunge steht ein dichter Wald aus Pinien, Eukalyptusbäumen und Mastixsträuchern. Der See wird von vielen unterirdischen Süßwasserquellen gespeist wird, während durch die Kanäle Foce Varano und Foce Capoiale Salzwasser aus der Adria zugeführt wird. Der Varano See ist reich an Höhlen und natürlichen Quellen, bekannt für Fischerei von Aalen und Muscheln und für die Vielzahl der Wasservögel, die dort leben, wie Enten, Reiher, Flamingos und Kormorane.

 

Gigantografia

 

Streetart umfasst verschiedene Techniken (Marker, Pinsel und Malerrollen, Sprühdosen, Aufkleber, Poster) , Materialien, Gegenstände und Formen der Kunst im öffentlichen Raum. Streetart wendet sich inhaltlich oft gegen Konsumismus, Kapitalismus und die Öffentliche Ordnung. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive kann man die Entwicklung von Street Art in Bezug setzten zu Pop Art, Dadaismus oder Land Art. Einer der berühmtesten Streetart Künstler ist Banksy. Sein Werk wird von Kritikern auch als ein moderner Totentanz bezeichnet.

 

Tricario erzählt in monumentalen Fotografien von den Menschen und Besonderheiten der Landschaft, in der er lebt. Inspiriert wurde er von den Werken des Straßenkünstlers JR ,der durch seine Fotografien von Einwohnern der Banlieues bekannt wurde, die er als großflächige Poster an Hochhäusern und Brücken in Paris und Cartagena anbringen ließ. In der spanischen Hafenstadt plakatierte JR dort, wo alte Gebäude abgerissen wurden, um für lukrativere Bürohochhäuser Platz zu machen, Groß-Fotoportraits der ältesten Einwohner, die zum Teil aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. 

2006 nahm JR an einer illegalen corporate streetart attack in Wuppertal teil. In seinem provokanten Projektbeitrag fotografierte er die Wuppertaler und erhob sie zu Stars, indem er die Porträts auf riesigen Postern, Stickern und Bannern an die Wuppertaler Schwebebahn hängte. Das Inside Out Projekt ist eines der am größten angelegtesten Kunstprojekte der Welt. Es  hat weltweit 223927 Porträts in 112 verschiedenen Ländern hervorgebracht.

 

Zusammen mit Agnes Varda drehte JR den Dokumentarfilm Augenblicke: Gesichter einer Reise , in dem die beiden mit einem Fotomobil auf eine Reise durch das ländliche Frankreich fahren. Sie entdecken Menschen und ihre Geschichten, die sie in überlebensgroßen Porträts an Fassaden, Zügen und Containern verewigen. „Die Größe gibt den Menschen ihr Würde zurück, das Gefühl der Selbstbestimmung. Nur Anerkennung kann die gesellschaftliche Isolation durchbrechen.“ meint JR.

 

Während JR inzwischen in der ganzen Welt unterwegs ist konzentriert sich Alessandro auf seine Heimat Apulien und die Entvölkerung kleinerer Gemeinden des Subappenins.  "Und wenn der Süden bisher soviele Einwohner verloren hat, als wären zwei Städte wie Bari und Taranto verschwunden, so sieht er jetzt viele Dörfer, in denen es nur noch die Alten gibt, die nicht gehen konnten. Und sie wissen nicht, mit wem sie reden sollen, wer den Geist des Ortes vermitteln soll. Eine anthropologische Transformation, die nicht nur an Zahlen gemessen wird. Eine Leere." schrieb die Gazetta del mezzogiorno im Oktober 2019 -> Artikel in der Gazetta del mezzogiorno

 

Ein älterer Mann mit Bart hat den Kopf auf seinen Arm gelegt und sieht nachdenklich aus, ein junges Mädchen steht auf dem Rücken eines knieenden Jungen: sie hat das Schild vendesi ( zu verkaufen ) auf einer Häuserwand durchgestrichen, ein älterer Mann wippt mit dem Stuhl und scheint gleich umzukippen, eine Herde Schafe und ein Schäferhund  kleben an einer niedrigen Mauer ( im Hintergrund eine weite Hügellandschaft), eine Migrantin in traditioneller afrikanischer Kleidung blickt auf ihr Baby, das sie auf dem Rücken träg, als könnten die gigantischen Bilder den Geist dieser Orte wieder lebendig werden lassen. Die Collagen sind fröhlich, humorvoll, weniger melancholisch als Fotografien, die als Botschaft aus vergangener Zeit immer eine unwiderstehliche Rührung auslösen. So erfährt der Ort

St.Agata ( wieder so eine heilige ) eine Wiederbelebung. am schönsten sind für mich Carmine und Michela, die haben es dieses Lächeln der Vollkommenheit...

 

Mediofondo Primavera

 

Der Wunsch, die Isolation der Menschen zu durchbrechen und ihnen Anerkennung zu schenken ist wie bei JR schon in Alessandro Tricasios füheren Fotografien zu spüren.  Alberona (958 Einwohner), Faeto (623 Einwohner), Celle di San vito (162 Einwohner), Panni (850 Einwohner), Celenza Valfortore, Faeto (623 Einwohner) sind die Namen von Orten, die Alessandra Tricario in den letzten Jahren für eine fotografische Langzeitstudie in Apulien besuchte, die besonders stark von Entvölkerung betroffen sind.  Alessandro poträtiert vor allem die alten und die jungen Einwohner, ihr Alltagsleben, ihre Bräuche. Da ist z.B. der Mann mit dem Strohhut, Nicola, 47 Jahre alt, der als Koch seit dem 16. Lebensjahr in mehreren italienischen und europäischen Restaurants arbeitete. Seine Liebe zu seiner Heimat führte ihn zurück nach Carlantino, wo er heute in einem Haus ohne Wasser und Licht, in Gesellschaft seiner Ziegen und Hühner lebt. Oder Fräulein Tecla, 78 Jahre alt, eine ehemalige Lehrerin aus Celle di San Vito, die einen Freund besucht und etwas Holz mitbringt, um die Zeit, die sie zusammen verbringen, aufzuwärmen.

Tricario zeigt verlassene Tankstellen und Häuser, die eher raue Landschaft des Subappenins, einer Region Apuliens, die so ganz anders ist als der sonnige Süden an der Küste. So spürt man in mediofondo primavera bereit sein Interesse, Spuren einer Kultur zu sichern, die vom Verschwinden bedroht ist. Faeto ist zusammen mit Celle di San Vito die einzige französisch-provenzalische Sprachminderheit in Süditalien. Angesichts der geringen Einwohnerzahl hat der örtliche Pfarrer das Tragen der Madonna, der nur ledigen Mädchen vorbehalten war, für verheiratete Frauen geöffnet.

 

-> Mediofondo Primavera

 

 

Ein Sprung ins Religiöse ?

 

Künstlerisch steht er damit in einer Tradition von Pier Paolo Pasolini, Christian Boltanski : „Ich möchte den Dingen – so weit wie möglich – wieder ihre Weihe geben, sie remythologisieren. Ich glaube, wenn ich so sehr auf dem Heimweh nach dem Sakralen insistiere, dann deshalb, weil ich den alten Werten verbunden bleibe. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie das Opfer einer künstlich beschleunigten Entwicklung, eines ungerechtfertigt verfrühten Vergessens sind.“ ( Pasolini).

Auch Christian Boltanskis Werk kreist um das Thema Verlust und seine Installationen besitzen häufig einen religiösen Kontext. Alltägliche Gegenstände wie Kleidung, Möbel und Amateurfotos stellt er wie Reliquien aus, um zu zeigen, dass jedes menschliche Leben „heilig“ ist. und um ein Wiedererkennen des Persönlichen im allgemein Menschlichen zu ermöglichen. In seinen stark vergrößerten Fotos menschlicher Gesichter und losgelöst aus ihrem ursprünglichen Umfeld werden Urbildern, die an ein kollektives Imaginäres appellieren und modern und archaisch zugleich sind. Aktuellere Beispiele sind Alice Rohrwacher ( Lazzaro felice ) Pippo Mezzapesa (1980 in Bitonto, Apulien, geboren) Il bene mio (2018)

Während Boltanski Museen in einen Andachtsraum verwandelt, verwandelt Tricario verlassene Häuser und Ruinen in Tempel.