Jean Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch?

 

 

56 Prozent der Befragten einer Umfrage des Rheingold Instituts stimmen der Aussage zu: "Wenn ich die Entwicklung der Politik und gesellschaftlichen Stimmungen in Deutschland so betrachte, würde ich am liebsten auswandern." ( Juli 2023 )

 

Ich fasse hier einige Gedanken aus dem Essay von Jean Améry über Heimatverlust, Heimatersatz, Chancen und Schwierigkeiten des Exils zusammen.

 

 

Jean Améry stellt die Frage "Wieviel Heimat braucht der Mensch?" aus einer einmaligen Extremsituation, der Position eines Exilierten, der vor den Nazis fliehen musste, weil er Jude war. Er fragt aber auch: Was bedeutet Heimat für die Menschen in der modernen Industriegesellschaft?

 

Im Gegensatz zu den Vertriebenen aus den östlichen Gebieten, die nach dem zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, hat Amery seine Heimat nicht nur verlassen, sondern entgültig verloren und damit auch ein Stück seiner Identität. Identität ist gebunden an Name, Freunde, Landschaften, Sprache, Erinnerungen. Die Freunde und Nachbarn aber waren Denunzianten, Abwarter, Schläger. So war Heimatverlust für ihn ein Stück Selbstentfremdung. Er konnte nicht mehr „wir“ sagen und nur noch ohne Gefühl von Selbstbesitz „ich“ sagen. „ Um dieser oder jener zu sein, brauchen wir das Einverständnis der Gesellschaft. Wenn aber die Gesellschaft widerruft, dass wir es jemals waren, sind wir es auch nie gewesen."  Er musste erkennen, dass seine Heimat nie eine Heimat gewesen ist und seine Freunde ein Lebensmissverständnis.

 

Heimatersatz kann nach Amery Religion, Geld, Ruhm und Ansehen sein. Die berühmten Emigrantenschriftsteller hatten neben den Sorgen um Visum und Geld, die Möglichkeit über Literatur zu sprechen oder einen antifaschistischen Kongress zu besuchen und sie lebten im Gefühl, die Stimme des wahren Deutschlands zu sein. Er selber hatte diese Möglichkeit nicht.

 

Eine Chance der Heimatlosigkeit sieht er in der Öffnung auf die Welt hin, einem kulturellen Internationalismus. Zu seinen geistigen Landsleuten nach 27 Jahren Exil zählt er Proust, Satre und Becket. Allerdings, so Amery, muss man Landsleute in Dorf oder Stadt haben, um der geistigen Landsleute froh zu werden.

 

Heimat ist im psychologischen Sinn Sicherheit. Für einen Touristen kann es eine reizvolle Erfahrung von Fremdheit sein, die Gesichter und Gesten der Einheimischen nicht deuten zu können und die Sprache nicht zu verstehen, für jemanden, der darauf angewiesen ist, bedeutet Fremdheit auch ein Mehr an Verunsicherung. In der Heimat erkennen wir schneller, wem wir trauen können und wem nicht. Im Exil kann man sich eine neue Heimat machen, wenn man langsam lernt die Zeichen zu entziffern.

 

Was bedeutet Heimat für die Zeitgenossen um 1970?

 

Hat Heimat in der modernen Industriegesellschaft noch eine geistige Entsprechung? Wie ist das Verhältnis von Heimat und Vaterland? fragt Amery. Trotz seiner Abneigung gegen Militär und Staatsdiener meint Amery, Heimat ohne Vaterland ist unmöglich. „Wer kein Vaterland hat, will sagen: kein Obdach in einem selbständigen, eine unabhängige staatliche Einheit darstellenden Sozialkörper, der hat so glaube ich, auch keine Heimat.“

 

Der moderne Mensch, prognostiziert Amery, tauscht Heimat gegen Welt. Die neue Welt wird eine sein, in der der Mensch sich an eine technisch wissenschaftliche Revolution assimiliert hat. Dabei beziet er sich auf das Buch von Pierre Bertaux: Mutation des Menschheit. Die neue Welt wird eine sein – kühner als jeder Traum von Großeuropa.

 

Dagegen hängt Heimat 1970 für die Fünfzigjährigen noch an durch die Sinne wahrnehmbare Dinge, Häuser, Möbel, die Geschichten erzählen und an denen Erinnerungen hängen. Je älter wir sind desto abhängiger sind wir von Erinnerungen, während die Jungen noch mehr Hoffnung haben, denn Ältere Menschen können sich weniger auf ihr Werden berufen. Der Ältere ist was er ist. Es altert sich schlecht im Exil.

 

Weh dem der keine Heimat hat, warnte Nietzsche. Améry beantwortet die Frage: Wieviel Heimat braucht der Mensch? am Ende des Essays nüchterner: "Es ist nicht gut ,keine Heimat zu haben."

 

Aus:  Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten.  Neuauflage Klett-Cotta, Stuttgart 1977.

 

Jean Améry, geboren 1912 als Ha(n)ns Mayer in Wien, war Schriftsteller und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen am 10. Mai 1940 wurde Améry in Belgien als „feindlicher Ausländer“ festgenommen und im südfranzösischen Lager Gurs interniert. 1941 gelang Améry die Flucht. Zurück in Belgien, schloss er sich dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus an. 1943 wurde Améry beim Verteilen antinazistischer Flugblätter verhaftet,  im Hauptquartier der Brüsseler Gestapo im Gefängnis Saint-Gilles/Sint-Gillis inhaftiert und gefoltert. 1944 wurde er ins Konzentrationslager Auschwitz verbracht, im April 1945 wurde das KZ und Amery von britischen Truppen befreit. Seit 1955 verwendete er das Pseudonym Jean Améry.

 

Umfrage des Rheingold Instituts: Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit

 

Nochmal: 56 Prozent der Befragten einer Umfrage des Rheingold Instituts stimmen der Aussage zu: "Wenn ich die Entwicklung der Politik und gesellschaftlichen Stimmungen in Deutschland so betrachte, würde ich am liebsten auswandern." ( Juli 2023 )

 

Die fünf Themen, die von den 18-65-Jährigen als besonders dringlich wahrgenommen werden, sind vor allem jene, die sich am unmittelbarsten auf das persönliche Leben auswirken: Inflation (51 Prozent), Altersarmut (46 Prozent), Klimawandel (43 Prozent), bezahlbarer Wohnraum (41 Prozent) und die Energiekrise (41 Prozent).

 

 

 

Drei Viertel der 18-65-Jährigen (73 Prozent) haben das Gefühl, »dass unsere Politiker keine Ahnung haben von dem, was sie tun«

 

 

 

34 Prozent vertrauen der Regierung

 

 

 

68 Prozent ziehen sich mehr zurück und mögen es, ihre Ruhe zu haben.

 

 

 

Im Rahmen der Studie wurden jeweils 35 Probanden in zweistündigen psychologischen Tiefeninterviews befragt.

 

Quelle: https://www.rheingold-marktforschung.de/gesellschaft/deutschland-auf-der-flucht-vor-der-wirklichkeit/

 

 

 

veröffentlicht am 27. Juli 2023

 

 

Die drei Gundlagen der Freiheit nach David Graeber aus dem Buch "Anfänge - eine neue Geschichte der Menschheit

 

 

 

Über verschiedene Richtungen nachzudenken, die eine Gesellschaft einschlagen könnte und Argumente zu formulieren, warum sie sich wofür entscheiden sollte - das macht den Mensch als politisches Wesen aus. Menschen haben im Laufe der Geschichte zahlreiche soziale Arrangements ausprobiert. Von diesen Arrangements rund um den Globus erzählt das Buch "Anfänge ". Aufgrund ihrer Recherchen formulieren der Anthroploge David Graeber und der Archäolge David Wengrow drei Grundlagen von Freiheit :

 

 

1. Die Freiheit, wegzugehen.

 

 

2. Die Freiheit, Befehle zu verweigern.

 

 

3. Die Freiheit, andere soziale Beziehungen zu organisieren.

 

Wie stark die Macht eines, Staatsoberhauptes, Häuptlings oder Königs war, hing in starkem Mass davon ab, ob seine Schutzbefohlenen weglaufen konnten oder nicht.  Der Zusammenbruch der Freiheit wegzugehen führte in der Regel auch zum Zusammenbruch der Freiheit, Befehle zu verweigern. Daher sind Gastfreundschaft und Asylrecht nicht zu unterschätzende Werte. Grundlagen sozialer Macht sind:

 

 

 

1. Gewaltandrohung

 

 

2. Informationskontrolle

 

 

3. heroische Politik charismatischer Oberhäupter

 

aus : Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit. 2022.

 

David Graeber (1961–2020) war Professor für Anthropologie an der London School of Economics. Er war renommierter anarchistischer Aktivist und Mitinitiator der Occupy Bewegung.