Jean Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch?

 

Viele denken ans Auswandern oder sind schon gegangen. Zusammenfassung einiger Gedanken aus dem Essay von Jean Améry über Heimatverlust, Heimatersatz, Chancen und Schwierigkeiten des Exils.

 

 

Jean Améry stellt die Frage "Wieviel Heimat braucht der Mensch?" aus einer einmaligen Extremsituation, der Position eines Exilierten, der vor den Nazis fliehen musste, weil er Jude war. Er fragt aber auch: Was bedeutet Heimat für die Menschen in der modernen Industriegesellschaft?

 

Im Gegensatz zu den Vertriebenen aus den östlichen Gebieten, die nach dem zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, hat Amery seine Heimat nicht nur verlassen, sondern entgültig verloren und damit auch ein Stück seiner Identität. Identität ist gebunden an Name, Freunde, Landschaften, Sprache, Erinnerungen. Die Freunde und Nachbarn aber waren Denunzianten, Abwarter, Schläger. So war Heimatverlust für ihn ein Stück Selbstentfremdung. Er konnte nicht mehr „wir“ sagen und nur noch ohne Gefühl von Selbstbesitz „ich“ sagen. „ Um dieser oder jener zu sein, brauchen wir das Einverständnis der Gesellschaft. Wenn aber die Gesellschaft widerruft, dass wir es jemals waren, sind wir es auch nie gewesen."  Er musste erkennen, dass seine Heimat nie eine Heimat gewesen ist und seine Freunde ein Lebensmissverständnis.

 

Heimatersatz kann nach Amery Religion, Geld, Ruhm und Ansehen sein. Die berühmten Emigrantenschriftsteller hatten neben den Sorgen um Visum und Geld, die Möglichkeit über Literatur zu sprechen oder einen antifaschistischen Kongress zu besuchen und sie lebten im Gefühl, die Stimme des wahren Deutschlands zu sein. Er selber hatte diese Möglichkeit nicht.

 

Eine Chance der Heimatlosigkeit sieht er in der Öffnung auf die Welt hin, einem kulturellen Internationalismus. Zu seinen geistigen Landsleuten nach 27 Jahren Exil zählt er Proust, Satre und Becket. Allerdings, so Amery, muss man Landsleute in Dorf oder Stadt haben, um der geistigen Landsleute froh zu werden.

 

Heimat ist im psychologischen Sinn Sicherheit. Für einen Touristen kann es eine reizvolle Erfahrung von Fremdheit sein, die Gesichter und Gesten der Einheimischen nicht deuten zu können und die Sprache nicht zu verstehen, für jemanden, der darauf angewiesen ist, bedeutet Fremdheit auch ein Mehr an Verunsicherung. In der Heimat erkennen wir schneller wem wir trauen können und wem nicht. Im Exil kann man sich eine neue Heimat machen, wenn man langsam lernt die Zeichen zu entziffern.

 

Was bedeutet Heimat für die Zeitgenossen um 1970?

 

Hat Heimat in der modernen Industriegesellschaft noch eine geistige Entsprechung? Wie ist das Verhältnis von Heimat und Vaterland? fragt Amery. Trotz seiner Abneigung gegen Militär und Staatsdiener meint Amery, Heimat ohne Vaterland ist unmöglich. „Wer kein Vaterland hat, will sagen: kein Obdach in einem selbständigen, eine unabhängige staatliche Einheit darstellenden Sozialkörper, der hat so glaube ich, auch keine Heimat.“

 

Der moderne Mensch, prognostiziert Amery, tauscht Heimat gegen Welt. Die neue Welt wird eine sein, in der der Mensch sich an eine technisch wissenschaftliche Revolution assimiliert hat. Dabei beziet er sich auf das Buch von Pierre Bertaux: Mutation des Menschheit. Die neue Welt wird eine sein – kühner als jeder Traum von Großeuropa.

 

Dagegen hängt Heimat 1970 für die Fünfzigjährigen noch an durch die Sinne wahrnehmbare Dinge, Häuser, Möbel, die Geschichten erzählen und an denen Erinnerungen hängen. Je älter wir sind desto abhängiger sind wir von Erinnerungen, während die Jungen noch mehr Hoffnung haben, denn Ältere Menschen können sich weniger auf ihr Werden berufen. Der Ältere ist was er ist. Es altert sich schlecht im Exil.

 

Weh dem der keine Heimat hat, warnte Nietzsche. Améry beantwortet die Frage: Wieviel Heimat braucht der Mensch? am Ende des Essays nüchterner: "Es ist nicht gut ,keine Heimat zu haben."

 

 

 

 

Aus:  Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten.  Neuauflage Klett-Cotta, Stuttgart 1977.

 

Jean Améry, geboren 1912 als Ha(n)ns Mayer in Wien, war Schriftsteller und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen am 10. Mai 1940 wurde Améry in Belgien als „feindlicher Ausländer“ festgenommen und im südfranzösischen Lager Gurs interniert. 1941 gelang Améry die Flucht. Zurück in Belgien, schloss er sich dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus an. 1943 wurde Améry beim Verteilen antinazistischer Flugblätter verhaftet,  im Hauptquartier der Brüsseler Gestapo im Gefängnis Saint-Gilles/Sint-Gillis inhaftiert und gefoltert. 1944 wurde er ins Konzentrationslager Auschwitz verbracht, im April 1945 wurde das KZ und Amery von britischen Truppen befreit. Seit 1955 verwendete er das Pseudonym Jean Améry.

 

 

mehr zum Thema Heimat, Emigration auf diesem Blog: ->Der Fels des Eremiten (2019)