Der Neorealismus - Kino der Sehenden

 

Das Erbe des Neorealismus prägt bis heute den italienischen Film.  Die wichtigsten Merkmale des Neorealismus erklärt an Filmbeispielen von Roberto Rossellini, Luchino Visconti und Michelangelo Antonioni.

 

 

 

Der filmische Neorealismus ist Teil einer Bewegung, die in der Literatur und Kultur in Italien ab 1935 startete. Er wollte nicht nur eine andere Wahrheit zeigen, sondern diese Wahrheit auch anders, also mit anderen künstlerischen Mitteln zeigen.  Noch während der Zeit des Faschismus gab es Diskussionen um einen neuen Realismus. Der Begriff "Neorealismo" stammt von dem Filmkritiker Umberto Barbaro und wurde längere Zeit gleichrangig mit „Neoverismo“ benutzt.  Zu den wichtigsten Fimemachern gehören Luchino Visconti, Roberto Rossellini, Michelangelo Antonioni, Vittorio de Sica. Eine Son­derrolle spielte Federico Fellini (für ihn wurde der Begriff „Magischer Realismus“ geschaffen).

 

Die wichtigsten Kennzeichen des Neorealismus sind:

 

- un­ge­schmink­t die „Wahrheit" zeigen und die Ursachen für Elend und Ar­mut sicht­bar machen

 

- der weitgehende Verzicht auf erfundenen Geschichten, stattdessen vertraut er auf die Alltagswirklichkeit, d.h. das Leben und die Erfahrungen der einfachen Menschen. Es wurde Wert auf die Echtheit sozialer Milieus und ihrer Sprache und Dialekte gelegt.

 

-  Originalschauplätzen und Laiendarsteller

 

- Wirklichkeit sollte in Form einer Chronik dargestellt werden. Zufälle und Wunder können eine wichtige Rolle spielen.

 

Inhalt und Form des Neorealismus nach Zavattini und Bazin

 

Cesare Zavattini, Drehbuchschreiber und einer der ersten Theoretiker der neorealistischen Bewegung in Italien, forderte einen „Film über Dienstboten“, die das Bürgertum demaskieren. Die entscheidende Merkmale für den Neorealismus sind nach Zavatti: die geduldige Annäherung und Untersuchung des wirklichen Lebens, das völlig anders sei als die erzählten Geschichten, voller „winziger Fakten“, die alles Menschliche, Historische, Determinierte und Definitive enthielten. Es gehe darum, „die Dinge, wie sie sind, fast allein sprechen zu lassen und sie so bedeutsam wie möglich werden zu lassen“. Es gibt also nichts Banales, denn in jedem Augenblick stecke ein „unerschöpfliches Bergwerk der Wirklichkeit“. Es komme nun darauf an, darin zu graben, denn nur so gewinne das Kino an sozialer Bedeutung.

 

André Bazin war ein einflussreicher französischer Filmkritiker und Filmtheoretiker. Das wichtigste Kennzeichen des Neorealismus war für ihn das Verhaftetsein im Zeitgeschehen. Sie besitzen für Bazin einen hohen dokumentarischen Wert, da die Drehbücher untrennbar mit der geschilderten Epoche verbunden sind. Im Gegensatz zum poetischen Realismus in Frankreich können neorealistische Filme zeitlich ziemlich genau eingeordnet werden. Deshalb nennt Bazin die „italienischen Filme“ auch „rekonstruierte Tatsachenberichte“. Paisà von Rossellini beispielsweise erzählt keine in sich geschlossene, zusammenhängende Geschichte, sondern liefert Wirklichkeitsfragmente in Bildern, geordnet durch ihre chronologische, ihnen innewohnende Zeit. Die Filme sind für ihn im tiefsten Sinne realistisch, denn sie funktionieren wie unsere Wahrnehmung: lückenhaft, wählerisch, das Große Ganze im Kleinen erkennend. Auch die Figuren der Filme zeigen eine „bestürzende Wahrhaftigkeit“.

 

 

Gilles Deleuze: Kino der Sehenden

 

Der französische Philoosph Gilles Deleuze geht bei der Beschreibung des Neorealismus noch einen Schritt weiter. Das revolutionäre am Neorealismus ist für Deleuze, dass ein ganz neuer Bildtypus in ihm auftaucht: das rein optisch akustische Bild.Wir nehmen immer nur wahr, was wir aus wirtschaftlichen Interessen, ideologischen Glaubensfragen oder psychologischen Bedürfnissen bereit sind wahrzunehmen. Normalerweise nehmen wir also nur Klischees wahr, es sei denn unsere sensomotorischen Schemata werden blockiert oder zerbrechen." Genau das passiert im Kino des Neorealismus, in dem ein neuer Bildtypus auftaucht: das rein optisch akustische Bild.

 

Deleuze nennt den Neorealismus ein Kino der Sehenden, nicht der Aktion. War bislang ein Filmbild dazu da, Handlung zu beschreiben, eine Bewegung zu zeigen, so treten nun Figuren auf, die sehen, statt handeln. Der Neorealismus verlässt die sensomotorischen Situationen (Situationen, in denen Handlung auslösend oder als Folge beschrieben werden), und an deren Stelle treten verstärkt optisch akustische Situationen.

 

Begegnungen, Stationen, Episoden führen die Kamera, Zufälle und ungewisse Verkettungen strukturieren die Erzählung. Das heißt, in der Fragmentarisierung von Raum und Handlung zeigt sich die Zerlegung der Zeit. Sie löst sich vom Raum und der Handlung, wird zur „reinen Zeit“. Deleuze beschreibt das im ersten Kapitel seines Buches anhand der Filme von Rosselini, Visconti und Antonioni.

 

Roberto Rossellini

 

In Roberto Rosselinis Film Germania anno zero geht es um ein Kind, das im Berlin des Nachkriegsdeutschlands an dem stirbt, was es sieht. .In Stromboli geht es um die Gewalt des Thunfischfangs und eines Vulkanausbruchs. Viaggio in Italia handelt von einer Touristin, die durch Italien reist und zutiefst zutiefst getroffen ist von den Bildern, die an ihr vorüberziehen. In allen drei Filmen sind Menschen zu keiner Reaktion mehr fähig, weil nichts die Gewalt dessen lindern könnte, was sie sehen.

 

Luchino Visconti

 

Ossessione ( Besessenheit ) von 1943 ist der erste Film von Luchino Visconti und wird gleichzeitig als erstes Werk des italienischen Neorealismus betrachtet. Vorlage war der Roman "Wenn der Postmann zweimal klingelt".

 

La terra trema - Episodio del mare  ( Die Erde bebt - Episode des Meeres ) drehte Visconti 1948 auf Sizilien mit siziliansichen Fischern als Darstellern.  Die Dialoge in sizilianischer Sprache werden im Film von einem Erzähler auf Italienisch kommentiert. Der Film beruht auf dem Roman I Malavoglia von Giovanni Verga. Visconti plante den Film als ersten Teil einer Trilogie. Zwei weitere geplante Filme über die Lage der Schwefelarbeiter und der Bauern auf Sizilien konnte Visconti aber nicht finanzieren.

In La terra trema geht es für Deleuze um Menschheits- und Naturgeschichte sowie um die Gemeinschaft der armen Fischer, aus der die Reichen ausgeschlossen sind.

 

 

Rocco und seine Brüder 1960.  Eine Witwe aus  Süditalien folgt mit ihren vier Söhnen dem ältesten Sohn in die Industriestadt Mailand, wo sie bessere Lebensbedingungen erhoffen. Doch die Begegnung mit der modernen italienischen Gesellschaft führt zum Zerfall der Familie. Der in Schwarzweiß gedrehte Film gehört zur Spätphase des italienischen Neorealismus. Er nimmt Personen und Motive des Buches Il ponte della Ghisolfa von Giovanni Testori auf. In der ersten Szene kommt die Familie im Bahnhof von Mailand an. Bari - Milano steht auf dem Zug.

 

Michelangelo Antonioni

 

Von 1960 bis 1963 drehte Antonioni drei Filme, die die Entfremdung der bürgerlichen Gesellschaft zum Thema hatten: L´avventura ( Die mit der Liebe spielen), La notte ( Die Nacht), L´eclisse ( Liebe 1962). Deleuze meint, Antonioni´s ästhetische Visionen sind immer auch Kritik am kranken Eros einer korumpierten Gesellschaft, in der Mann und Frau hilflos, lächerlich und gedemütigt das Ende einer Beziehung erleiden müssen.

„ Wenn wir am Eros kranken, dann weil der Eros selber krank ist; und krank ist er nicht einfach weil er alt und im Innern verbraucht ist, sondern weil ihn die reine Form einer Zeit gefangen hält, die zwischen einer schon beendeten Vergangenheit aund einer ausweglosen Zukunft zerissen ist.“ ( Antonioni) Chronos ist die Krankheit selbst.

 

Antonioni war ein Meister darin, die Zustände von Entfremdung und innerer Verlorenheit des Menschen in die Sprache des Kinos zu übersetzen.  Die Umgebung und die Beziehung zur Umwelt wird wichtig: die Natur, die Städte, die Architektur, die zu Orten der Isolation werden. Peter Brunette meint, ein wichtiges stilistisches Mittel, das Antonioni gebrauchte war die sogannte cinematografische tote Zeit, eine starke Verlangsamung, die den Zuschauer dazu bringt, visuelle und akustische Details wahrzunehmen, die sonst im Schwung der Erzählung untergehen.

 

In den englischen Filmen Blow up ( 1966), Professione Reporter (1975)Zabriskie Point (1970) hat Antonioni auch die Funktion der Bilder und der Imagination selbst hinterfragt, so in der Szene am Ende von "Zabriski Point" in  "Blow up".  

 

Sein letzter Film hieß Eros ( 2004). Antonioni gilt als einer der besten Regisseure aller Zeiten. ( Er starb übrigens am 30.Juli 2007, am gleichen Tag wie Ingmar Bergmann).

 

 

..am Ende wissen wir nicht, ob der glutrote Schimmer auf dem Auto der davonfahrenden Protagonistin tatsächlich den brennenden Trümmern eines in die Tat umgesetzten „Fuck you, America“, oder vielleicht doch nur der untergehenden Wüstensonne zuzuordnen ist – und das ist auch völlig egal. Denn Kategorien wie Traum und Realität, die sich unserem nach Verständnis und Logik schmachtenden Sachverstand stellenweise aufdrängen, sind für „Zabriskie Point“ vermutlich überhaupt nicht maßgebend.“  (filmstarts.de)

 

Dem Klischee ein Bild entreißen..

 

Für Filmfreaks noch ein paar weiterführende Gedanken von Deleuze über das Kino. Das ist nicht immer ganz leicht zu verstehen, aber sehr spannend, was er da nicht nur über den Neoralismus sondern das Kino und seine Bildtypen philosophiert.

 

Deleuze meint, eine optisch akustische Situation setzt sich nicht in Aktion um und wird auch nicht von ihr veranlasst. Ihre Funktion besteht darin, etwas begreifbar zu machen, das zu gewaltig, zu ungerecht oder auch zu schön ist, eine Grenzsituation. So kann das Unerträgliche zu einer Offenbarung oder Erleuchtung werden, die nur mit dem dritten Auge wahrnehmbar ist. Zuschauer und Figuren im Film können so zu Visionären werden.

 

Wenn der Mensch also normalerweise nur Klischees wahrnimmt, wie lässt sich dem Klischee ein Bild entreißen? Indem man eine Trennung vornimmt, eine Leere aufreißt, weiße Stellen einführt, eindringliche Kadrierungen, leere Räume, Stilleben und die Audruckskraft der unbweglichen Kameraeinstellung nutzt. Außerdem muss dem optisch akustischen Bild eine enorme Energie zugeführt werden, die zutiefst lebendiger Intuition entspringt.

 

Die Mittel des Kinos sind:

 

1. Zeitbilder, Chronozeichen

 

Anstatt aus der Zeit das Mass der Bewegung zu machen, muss Bewegung eine Perspektive der Zeit werden. Michelangelo Antonioni macht das Gewicht an Zeit, das sich im Innenleben der Figuren abspielt  sichtbar durch Verflechtungen früherer und zukünftiger Ereignisse. Für Deleuze eine ganze Welt von Chronozeichen. 

 

2. Lektozeichen - Lesbare Bilder

Nicht nur visuelle, sondern akustische Bildelemente gehen eine Beziehung miteinander ein. Das Bild muss dann gelesen werden wie ein Buch ( Beispiele sind für Deleutze der späte Rosselini, der mittlere Godard, der japanische Regisseur Ozu.

 

3. Noozeichen - das denkende Bild  

Die Kamera verzichtet darauf, Figuren zu folgen, sondern nimmt ständig Rekadrierungen vor - quasi als Funktion des Denkens.Der Film etabliert sozusagen ein Kamerabewusstsein, für das nicht die Bewegungen wichtig sind, die es verfolgt, sondern mentale Beziehungen, die es eingehen kann. Hitchcock ist ein Beispiel aber auch Antonionis Film "Liebe1962".

 

 

Regisseure und Filme des Neorealismus

 

Vittorio de Sica

  • Sciuscià (Schuhglanz, 1946) - Oscar ab honorem

  • Ladri di biciclette (Fahrraddiebe, 1948) - Oscar für den besten ausländischen Film

  • Miracolo a Milano (Das Wunder von Mailand, 1951) - Goldene Palme beim Festival von Cannes

  • Umberto D. (1952)

Giuseppe de Santis

  • Caccia tragica (1946)

  • Riso Amaro (Bitterer Reis, 1949)

Pietro Germi

  • Gioventù perduta (1947)

  • In nome della legge (1948)

  • Il cammino della speranza (1950)

Luigi Zampa

  • Vivere in Pace (In Frieden leben, 1947)

  • L'onorevole Angelina (Der Abgeordnete Angelina, 1947)

  • Anni difficili (Schwierige Jahre, 1948)

  • L'arte di arrangiarsi (1954)

Renato Castellani

  • Sotto il sole di Roma (1948)

  • È primavera (1949)

  • Due soldi di speranza (1952) - GoOldene Palme beim Festival von Cannes

Alberto Lattuada

  • Il bandito (1946)

  • Senza pietà (1948)

 

 

weiterlesen:

Literatur über den italienischen Neorealismus

 

Gilles Deleuze: Kino. Band 2: Das Zeit-Bild.

 

Massimo Perinelli: Fluchtlinien des Neorealismus: Der organlose Körper der italienischen Nachkriegszeit, 1943-1949.

Dieses Buch verbindet erstmalig eine an das Denken von Deleuze/Guattari angelehnte materielle Körpergeschichte mit dem Spielfilm als historische Quelle. Während die historische Wissenschaft Italien 1943-1949 als eine Zeit des Chaos und des politischen Kulturkampfes sieht, zeugen die Analysen von knapp 50 Filmen der neorealistischen Periode von faszinierenden heterotopischen Vergesellschaftungsformen, die in der Lücke zwischen dem Zusammenbruch des Faschismus und der Etablierung der italienischen Republik im Übergang zu den 1950er Jahren möglich wurden.

 

André Bazin: Der filmische Realismus und die italienische Schule nach der Befreiung. In: Was ist Film? Alexander-Verlag, Berlin 2004