Das Märchen von Blaubart und seine tiefere Bedeutung

 

Es ist Mitte Januar 2021 und anstatt die nächste Apulienreise zu planen, erzähle ich Märchen. Denn niemand weiß, ob wir jemals wieder reisen werden wie vorher. Das Märchen von Blaubart ist eine innere Heldenreise, das mir in kritischen Situationen oft den Weg gewiesen hat. Man kann daraus auch in dieser Krise Halt und Orientierung finden, aber Vorsicht! Es ist eine Geschichte über verbotene Türen und wer sie öffnet, kann nicht mehr zurück.

 

fotografiert in Carovigno
fotografiert in Carovigno

Das Märchen von Blaubart

 

Ein reicher Mann möchte gerne eine der drei bezaubernden Töchter einer Nachbarin aus gutem Stande zur Frau nehmen, doch keine der drei möchte ihn heiraten, da sie seinen blauen Bart so hässlich finden und ihm nicht ganz trauen. Nachdem er die Mutter und Töchter aufs Land zu einem rauschenden Picknick und allerlei Unterhaltung eingeladen hat, entschließt sich die jüngste Tochter doch dazu, Blaubart zu heiraten. Sein Bart sei im Grunde gar nicht ganz so hässlich und er selbst scheinbar doch ein anständiger Mann.

Bald nach der Hochzeit teilt Blaubart seiner jungen Frau mit, dass er für eine Zeit verreisen müsse. Er überreicht ihr einen Schlüsselbund und sagt ihr, sie könne sich im Haus frei bewegen und solle sich während seiner Abwesenheit ruhig amüsieren. Auf gar keinen Fall dürfe sie jedoch einen bestimmten Schlüssel verwenden und damit die zugehörige Kammer im Keller aufschließen.

 

Kaum ist Blaubart abgereist, eilen die Schwestern der Ehefrau zu Blaubarts Haus. Sie bestaunen die Kostbarkeiten im Haus und von Neugier getrieben steigen sie zusammen mit der jüngsten Schwester in den Keller hinab und schließen die verbotene Tür auf. In der Kammer finden sie Blaubarts frühere Frauen ermordet und verstümmelt vor. Entsetzt lässt die Ehefrau den Schlüssel in eine Blutlache fallen, hebt ihn auf und verschließt die Kammer wieder. Ihre Versuche, den Schlüssel von den Blutflecken zu reinigen, scheitern.

 

Blaubart kehrt unerwartet schnell zurück und bemerkt aufgrund der Blutspuren am Schlüssel sofort die Missachtung seines Gebots. Er wird sehr zornig und verurteilt seine Frau zum sofortigen Tod, auf dass sie den Leichen in der Kammer Gesellschaft leistet. Es gelingt der Frau aber, Zeit zu gewinnen, indem sie Blaubart bittet, ein letztes Gebet sprechen zu dürfen. In dieser Zeit laufen ihre Schwestern auf den Turm, damit sie dort ihren Brüdern Zeichen geben. Endlich erscheint am Horizont eine Staubwolke: die Brüder kommen auf ihren Pferden zur Hilfe geritten. Im allerletzten Moment erscheinen die bewaffneten Brüder und töten Blaubart, die Schwester ist gerettet.

 

 

Schritte und Symbole der Initiationsreise

Die tiefenpsychologische Deutung des Märchens fasse ich aus dem Buch Die Wolfsfrau zusammen, das sich vor allem aber nicht nur an Frauen richtet. Fühlt euch bitte als Männer genauso angesprochen.

 

Blaubart / der Räuber

 

Blaubart symbolisiert eine zerstörerische Kraft im Menschen, die in ihre Schranken gewiesen werden muss. Er ist der Archetyp des Widersachers. In früheren Zeiten tauchte er zuerst als gescheiterter Magier auf. Wir finden ihn im Mythos von Ikarus, der mit aller Macht der Sonne entgegenstürmte und abstürzte, in Prometheus, in Luzifer, der sich mit Jehowa gleichstellte und in die Hölle verbannt wurde oder im Zauberlehrling. Es sind Figuren, die nach Macht und Herrschaft über etwas streben, das traditionsgemäß über Werden und Vergehen aller Dinge bestimmt. Ursprünglich ist es ein Wesen, das die Lichtkraft aller Lichtkräfte übertrumphen wollte. Diese zum Bösen neigende Gestalt existiet innerhalb und außerhalb der Psyche.

 

Die Innenwelt jedes Menschen wird von unterschiedlichen Wesen bevölkert, die alle ihre eigenen Absichten haben und von denen einige gefährlich und zerstörerisch sind. Man kann diese Figuren Dämonen oder Räuber nennen. Im Märchen von Blaubart erscheint die Figur zunächst als Frauenheld. Dieser Räuber oder Ausbeuter bewohnt eine Kammer in der Psyche jeder Frau und hindert sie daran, Zugang zu tieferen Wissen und Intuition zu finden. Alle Motive und Charaktäre eines Märchens können Symbole sein für das Drama, das sich in der Psyche einer einzelnen Person auf dem Weg der Individuation abspielt.

 

Die junge Frau / die Unwissende

 

Die jüngste Tochter verkörpert im Märchen die unwissende, unschuldige, naive Frau. Sie muss, wenn sie merkt, dass sie gefangen genommen wurde, eines Tages den Mut finden, die Tür zur Gruselkammer zu öffnen und sich ansehen, wie sehr sie selber bereits zerstückelt und kopflos gemacht worden ist. Die Angst vor Kellerverlies kann so groß sein, dass die Frau, solange es irgend geht, mit großem Kraftaufwand eine Scheinrealität aufrecht erhält.

 

Verschlossene Türen / psychische Barrieren

 

Blaubart verleiht seiner Frau ein illusorisches Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung, indem er ihr sagt, sie könne tun und lassen, was sie wolle, aber das wahrhaft Wissenswerte dürfe sie nicht ergründen. Vielleicht verspricht der Verführer finanzielle Sicherheit, ekstatischen Sex, Abenteuer oder ewige Liebe. Die Bedingung dafür ist, dass die Frau ihr Bedürfniss nach tiefere Erkenntnis aufgibt. Psychologen wie Freud haben in dem Märchen von Blaubart eine Bestrafung für die (sexuelle) Neugier der Frau gesehen. Clarissa Pinkola Estes meint: sobald die Frau die Gruselkammer öffnet, entscheidet sie sich für ihr Leben. Die Tür zur Gruselkammer symbolisiert eine psychische Barriere, die uns wie ein Spuk verwirrt und für die wir einen Gegenzauber brauchen, um Zugang zum tieferen Wissen zu finden.

 

 

Der Schlüssel zum Verständnis

 

Das magische Symbol für diesen Gegenzauber ist der Schlüssel. Schlüsselfragen lösen Verwandlungsprozesse aus. Der Wendepunkt der Geschichte ist der Moment, in dem gefragt wird, was sich hinter der Fassade abspielt. Ist die Tür zum Kerker ersteinmal geöffnet, zieht eine Schlüsselfrage immer weitere Fragen nach sich. Plötzlich stellen wir erschrocken fest, dass wir unsere Träume und Hoffnungen bereits weit hinter uns gelassen haben, dass wir uns seit langem in die Tasche lügen, nicht sehen wollen, was uns zu sehr verletzten könnte. Wenn eine Frau ertragen kann, was sie auf diese Art herausfindet, wird ihr ein inneres Auge (drittes Auge) verliehen, das immer geöffnet bleibt. Es symbolisiert die Hellsicht ihrer Ursinstinkte. Ist der erste Schritt getan, besteht der nächste noch schwierigere Schritt darin, die Wahrheit zu ertragen.

 

 

Blutspuren, Keller und Höhlen

 

Das Blut ist ein Symbol für die Wunden und Verletzungen, die dazu geführt haben, dass kreative Energie manchmal sogar die gesamte Lebensenergie erschöpft ist. Wenn das Blut im Märchen von Blaubart das Kleid der Frau besudelt und nicht aufhört zu fließen, heißt das, sie kann die Wahrheit nicht mehr verstecken. Die Kleidung gehört zur Maske oder Verkleidung einer Person, zu dem was Menschen vorgeben zu sein. So schmerzhaft die Wahrheit auch sein mag, sie ist am Ende Medizin, denn erst wenn man die Wahrheit kennt, kann gehandelt werden. Wenn wir nicht gleich wieder vergessen können, was wir im finsteren Keller entdeckt haben, liegt das an dem Blutstrom. Der Blutstrom hindert uns das Leben, das wir vorher geführt haben, mit einem Trick, Ausreden oder weiteren Selbstlügen aufrecht zu erhalten. Es gibt kein Zurück mehr ins alte Leben. Keller und Höhlen sind in jedem Märchen Einweihungsstätten, an die man sich begibt, um sich mit dem Tod zu befassen.

 

Fragen, die der allgemeinen Wahrheitssuche dienen:

 

Was weiß ich in den Tiefen meiner Eingeweide, dass ich am liebsten verleugnen würde?

Was ist in mir abgestorben, was siecht nur noch dahin?

 

Befreiung

 

Wenn eine Frau erkennt, dass sie in Todesgefahr ist, dass die Grenze des Erträglichen erreicht ist, muss sie alle Kräfte für den Überlebenskampf mobilisieren. Flucht und Rückzug sind in dieser gefährlichen Situation keine Schande. Während des Rückzugs wird dann alle Energie heraufbeschworen, die hilft, Blaubart zu besiegen. Blaubart kann ein Familienmitglied, ein Liebhaber oder ein Komplex im Inneren sein. Die notwendiegn aggressiven Energien ( Frauen haben meist zuwenig davon ) werden im Märchen von männlichen Figuren ( hier Brüdern), von Tieren oder Naturerscheinungen, wie Höhlen, die sich von selbst verschließen, verkörpert. Das Bitten und Beten der Frau ist ein Symbol für eine innere Kraftbeschwörung. Der Wirbelwind, der am Horizont zu sehen ist, wenn die Brüder sich endlich nähern, ist ein Symbol für Entschlusskraft. Nur Frauen, die diese Kraft in sich abrufen können, müssen keine Angst haben, ohnmächtig zusammenzubrechen, wenn es darum geht, Unabdingbares zu verteidigen. Der Zugang zu männlicher Energie wird bei Jung animus genannt und kann im Märchen in Gestalt eines Bruders, Sohnes, Prinzen, Ehemanns oder Fremdlings auftauchen. Der animus, der innere Mann, ist wesentliches Element der weiblichen Psyche. Man kann sich den animus als Brücke zwischen der weiblichen Gefühlswelt und der eher rauen Außenwelt vorstellen.

 

Letzte Prüfung und Verwandlung: Feuer

 

Im letzten Schritt muss die Frau dem inneren Räuber die Kraft entziehen, die ihn stark macht, das heißt, sie darf sich keinen Gedanken erlauben, der sie vom Instinktwissen trennt oder ihr Selbstwertgefühl untergräbt. Die Aggressivität des Räubers kann so in ein geistig-seelisches Feuer verwandelt werden, eine Leidenschaft mit der sich ein Projekt oder Lebensziel verfolgen lässt. Das Mittel dazu ist: Fragen stellen. Immer wieder Fragen stellen. Ehrliche Fragen entziehen inneren und äußeren Räubern die Macht. Sie demaskieren sie.

 

Cutura cura?

 

Viele psychologische Theorien verlegen alle äußeren Einflüsse nach innen, individualisieren sie und trennen Menschen dadurch von der Welt ab. Äußere Einflüsse, betont Pinkola Estes haben aber eine ebenso gewaltigen Einfluss auf die Psyche und Träume der Menschen, wie innere Komplexe und so kann auch kollektiv von dunklen Männern geträumt werden. Der Kultur muss ebensoviel Gewicht beigemessen werden wie der Familie, denn die Kultur ist die Familie der Familien. Auch eine Kultur kann von einer Krankheit befallen sein. In einer Kultur, die heilt, lernen Menschen aufkommende Differenzen zu überbrücken, die Menschenwürde aller Familienmitglieder zu wahren und Minderheiten einzugliedern. Wenn die Psyche von Angst und Misstrauen gelähmt ist, kann weder Neues geboren werden noch Altes Sterben.

 

Clarissa Pinkola Estés ist jungianische Psychoanalytikerin und cantadora (Geschichtenerzählerin). Ihre Arbeit sieht sie als Psychoarchäologie, mit der sie versucht verschüttete ( insbesondere weibliche ) Urinstinkte auszugraben. Sie meint, aus vielen Märchen lassen sich Anleitungen zur Rückforderung dieser "Instinktnatur" des Menschen ablesen. Mit Instinktnatur ist eine natürliche Lebensweise gemeint, in der ein Mensch seine ihm innewohnende Integrität, Humanität und intakte Grenzvorstellungen bewahrt.

Das symbolische Urbild dieser Instiktnatur ist für Clarissa Pinkola Estés das der „Wolfsfrau“.

 

Die Pforten zur Welt der wilden Frau sind selten. Eine tiefe Narbe, eine uralte Geschichte – das sind für sie Türen. Den Himmel und das Meer so sehr zu lieben, dass es einem das Herz auseinadersprengt – das ist auch eine Tür.

 

Der Gesang der dunklen Jahre und der ausgehungerten Seele „hambre del ama“, sowie das tiefe frohe Lied „canto hondo“, das wir singen, wenn wir die Seele aus dem Totenreich zurückfordern, lässt sich nicht dauerhaft unterdrücken. "Hambre del alma" bedeutet 'Seelenhunger'. Pinkola Estés leitet den Begriff aus der Analyse eines deutsch-magyarischen Volksmärchens mit dem Titel "Die kleinen roten Schuhe" ab und benutzt ihn, um zu erklären, was mit jemandem geschieht, wenn er sich zu lange am Schaffen hindert oder daran gehindert wird: Er versucht, sein Leben mit leeren Dingen zu füllen, und wird schließlich selbst leer.

 

 

Das Märchen: Die roten Schuhe:

 

Die vertrocknete alte Frau symbolisiert im Märchen „ Die roten Schuhe“ den Zustand der Versteinerung, Erkaltung oder Vergreisung. Der Archetyp „senex“ bedeutet eine alternde Kraft, die das Vitale erstickt. Die alternde Kraft repräsentiert häufig ein Kollektiv ( eine Kultur, Familie, religiöse, berufliche Gemeinschaften oder eine Gesellschaft). Die Macht von Kollektiven besteht im allgemeinen darin, durch Begünstigungen zu belohnen oder Missachtung zu strafen, um Kontrolle über den Einzelnen zu erlangen. Für eine wilde Seele darf es nie darum gehen, mit irgendeinem Kollektiv zu verschmelzen, sondern aus freiem Willen Brücken zum Kollektiv zu schlagen. Umgekehrt sollte ein Kollektiv nicht daran interessiert sein, ein Klasse von gehorsamen Sklaven und Ja-sagern zu fördern. Wer zulange im Gefängnis der Ansichten eines Kollektivs sitzt, opfert sein kreatives Feuer, dessen Seele hungert aus, den befällt immer eine dumpfe Trauer und ein rasendes Verlangen nach roten Schuhen .

 

Der Kniefall vor dem Kollektiv bewahrt vor der Verbannung ins Exil, das auch ein inneres sein kann. Der Versuch, lieb und gehorsam im Angesicht einer Bedrohung zu sein, entseelt den Menschen, denn die Seele hat den natürlichen Drang, auf Missstände aufmerksam machen. Die Normalisierung des Abnormen ist eine Neurose, die in sämtlichem Kulturen der Welt zu finden ist. Psychologen sprechen von angelernter Hilflosigkeit, wenn man sich an körperliche, emotionale, geistige Gewalttaten gewöhnt. Viele Menschen finden sich mit der Normalität des Abnormen ab und fügen sich. Sie beginnen zu dulden, was unerträglich ist, wie Babys die sich die Lunge aus dem Hals geschrien haben und irgendwann verstummen, weil niemand kommt.

 

Eugen Drewermann hat in den 1990er Jahren in der Radiosendung "Nachtgespräche" Märchen teifenpsychologisch interpretiert und mit den Zuhörern diskutiert. Einige Sendungen sind auf seinem Youtube Kanal noch nachzuhören, hier z.B. -> Rotkäppchen.

 

 

Was könnten andere Schlüsselfragen sein?

 

Ist der Mensch im Grunde gut oder böse ? Was ist der Ursprung sozialer Ungleichheit? Der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow stellten fest, dass diese Fragen oft in eine Sackgasse führen und dass andere Fragen viel wichtiger sein könnten. Welche könnten das sein?

-> Anfänge - eine neue Geschichte der Menschheit

 

 

Emmanuel Levinas: -> Was ist Ethik? Wie entsteht Moral?