"Wir müssen mit unserer Angst rechnen. Angst vor Isolation, vor Versagen, vor Verletzung, vor Strafe, dem Gewissen und letzlich dem Tod. Es ist vor allem die verdrängte Sterbeangst, die in unserer Kultur zu selbstdestruktiven Tendenzen führt."
Im Vorwort sines Buches „Umgang mit Angst“ beschreibt H.E. Richter Angst als eine Farbe unseres Lebens. Sie wird akzeptiert oder verleugnet, als Depression nach Innen oder Hass nach Aussen gewendet, erzeugt Rückzug oder Anteilnahme, Feigheit oder Mut – je nachdem als Verdrängung oder Anteilnahme des Todes.
Horst-Eberhard Richter war ein deutscher Psychoanalytiker, Psychosomatiker und Sozialphilosoph und galt vielen als der große alte Mann der bundesdeutschen Friedensbewegung. Er hat sich 40 Jahre lang in psychoanalytischen und psychosomatischen Studien mit Angst beschäftigt. In seinem Buch "Umgang mit Angst" von 1992 beschreibt er in 32 Kapiteln die verschiedensten Ängste des Menschen. Niemals zuvor in der abendländischen Geschichte ist das Sterben so mitleidlos ausgegrenzt worden wie heute, erklärt Richter 1992 nicht zuletzt mit Blick auf den schon damals eklatanten Pflegenotstand.
Der Philosoph Nietzsche hat gegen Ende des 19 Jahrhunderts mit Der letzte Mensch eine Kultur zu beschrieben, in der Kranksein zur Sünde wird. Ca 100 Jahre später, so Richter, zu Beginn der 1990er Jahre, setzt eine Entwicklung ein, in der Fit-sein, gute Laune, positives Denken und Zuversicht in die Zukunft zur Pflicht werden. Kummer, Schmerz und Angst dagegen werden zum Tabu. Positives Denken und künstlicher Optimismus betäuben die Alarmsignale, die vor der zunehmenden Zerstörung der eigenen Lebensbedingungen warnen. Vor allem die angepasste, priveligierte Schicht lebt in ständiger Abwehr dieser Angst, während die Schwachen, Armen und Bedrückten in den Schatten gedrängt werden.
Erich Fromm hat das schon vor Richter thematisiert. Fromm meinte, die meisten Menschen tragen eine Maske des Glücklichsein, weil Unglücklichsein als Misserfolg gilt und Menschen dadurch ihren Kredit auf dem Markt verlieren. -> Erich Fromm - Glücklichsein als Maske
Es gibt nach Richter zwei Gründe, die die Idee des Todes nach dem Mittelalter radikal verändert haben:
Der Mensch im Mittelalter kennt die Einsamkeit des Individuums nicht. Er lebt in einer festgefügten Ordnung, die ihn gleichzeitig fesselt und Halt gibt. Am Ende des Mittelalters vollziehen sich soziale Umstrukturierung der Gesellschaft, die zu einem, verstärkten Individualismus führen. Der Adel und die reichen Kaufleute weiten ihre Macht aus und die relative Solidarität der Gesellschaft des Mittelalters zerfällt. Anstelle der festen Ordnung tritt mehr Konkurrenz und mit der neuen Freiheit wächst auch die Angst.
Im Mittelalter lebt der Mensch noch in der Gewissheit des Glaubens, dass Gott barmherzig ist und die Seelen der Verstorbenen zu sich nimmt. Diese Gewissheit geht nach dem Mittelalter verloren.
Diese Verunsicherungen führen einerseits zu wissenschaftlichem Erkenntnisdrang, andererseits zu einer Renaissance von magischen Vorstellungen, Mythen und Okkultismus, die vor Übel, Krankheit und Tod schützen sollen. Höhepunkt waren die Hexenverfolgungen des 14. und 15.Jahrhunderts nach den Pestepidemien. Richter beschreibt es als archaisches Verhaltensmuster des Menschen, tiefe Ängste in gerichtete Furcht zu verwandeln, die er bekämpfen kann. Dazu gehören Teufel und Hexen, Darstellungen des Jüngsten Gerichts oder der Höllenfahrt. Psychoanalytisch gesehen, so Richter, wird Todesangst durch Höllenfurcht abgewehrt.( Übrigens ist der Artikel -> Magische Rituale und böser Blick zur Zeit der mit Abstand meist gelesene auf diesem Blog)
Es gibt jetzt einen guten Tod (Himmel) und einen bösen Tod (die Hölle). Durch die Abkehr vom Bösen und Buße kann jeder einzelne für sein Seelenheil sorgen. Im 17. und 18. Jahrhundert entstand daraus die Sterbehilfe-Literatur mit Titeln wie „Hochnötige Sterbekunst“ ( E.J Lütken, 1741) oder „Die Kunst, großmütig und selig zu sterben“ (J.G. Mauschen 1735). Die Romantik dagegen beschwört die Idee des schönen Todes und des sanften Einschlafens. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr, wohin der Tod führt, z.B. in den Himmel, sondern, wovon er befreit. Der Tod braucht keinen Trost, er wird in der Romantik selber zum Trost. In der Romantik ging das bis hin zur Todessehnsucht eines mit Liebe und Sehnsucht gemischten Todes.
Die Wissenschaft konzentriert sich darauf, den Tod aufzuschieben. Christoph Wilhelm Hufeland ( „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“, 1796 ) behauptet, der Mensch kann 200 Jahre alt werden, wenn er seinen Vorrat an Lebenskraft langsam verbraucht. Das Neue an dieser Entwicklung ist, dass der Tod langsam aber sicher zum hässlichen Feind wird, der nicht erlöst und dem man nur noch durch antrainierte Gleichgültigkeit wie durch die Sterbeliteratur seinen Schrecken nehmen kann. Aus dieser Sichtweise ( Hufeland beschäftigte sich viel mit Hygiene) wird der Tod abstoßend und schmutzig wie andere biologische Vorgänge und Ausscheidungen des menschlichen Körpers. In Krankenhäusern wird den Sterbenden Hygiene garantiert. Sterben wird nicht mehr begleitet, sondern zunehmend einem Problem der Entsorgung.
Mit der Medizinalisierung des Todes seit dem 19. Jahrhundert ist seine ganzheitliche psychosomatische Auffassung untergegangen. Die Sterbephase, die vorher die große christliche Prüfung der Seele war, ein Ringen zwischen Verzweiflung und Heilshoffnung, entwickelt sich zu einem einsamen Endkampf zwischen den Waffen der Medizin und tödlichen Viren oder Krebszellen.
Die Verdrängung der Todesangst lässt seit den 1990er Jahren Stärke, Fitness, Potenz und Leistung immer wertvoller werden. Angst wird zum Tabu und verwandelt sich in Hass gegen die Verursacher des Todes: Infektionen, Gifte, schlechte Gene und schädliche Lebensweisen. Zunehmend wird Front gemacht gegen Menschen, die sich nicht an Gesundheitsvorschriften halten: Raucher, Menschen mit Übergewicht, Aids und andere Risikogruppen.
Mütter, die behinderte Kinder zur Welt bringen, geraten unter den Verdacht, sich nicht gründlich genug untersucht haben zu lassen. Zu dieser Zeit tritt auch die Gentechnologie auf die Bühne. Trotz warnender Stimmen und Erinnerung an die Naziideologie gegen unwertes Leben, rüsten Verfechter der Ausmerzungsideologie zur Offensive. Argumentiert wird folgendermaßen: Ist es nicht das vornehmste und humanste Ziel der Menschheit, vor Leid und Elend zu bewahren? Sollte man die Chance auslassen, Hunderttausenden quälendes Siechtum, den Angehörigen unzumutbaren Pflegeaufwand und dem Gesundheitswesen volkswirtschaftliche Kosten zu ersparen? Zitat: „Wäre es nicht geradezu unverantwortlich, die nunmehr ermöglichte sanfte Eugenik zu verwerfen, die mit den Nazibrutalitäten nichts mehr gemein habe?“
Durch den Pflegenotstand kommt schon seit Mitte der 80er Jahre gehäuft zu Fällen, wo Angestellte von Pflegeheimen ältere Menschen töten. Vor Gericht wird einer Krankenschwester Strafmilderung zugestanden, weil sie aus Mitleid getötet habe. Richter spricht hier von einer Perversion des Begriffs Mitleid. Er kommt zu dem Schluss, dass
niemals zuvor in der abendländischen Geschichte das Sterben so mitleidlos ausgegrenzt worden ist. Richter nennt es ein systematisches Wegsehen. Die wichtigste, humanitäre Aufgabe, nämlich Sterbende mit Einfühlung zu begleiten, kann in Folge von unzumutbaren Bedingungen und Vernachlässigung der Institutionen nicht erfüllt werden.
Der entscheidende Schritt zu einem neuen Lebensverhältnis ist für Richter eine Wiedergewinnung des "verlorenen" Todes. Viele engagierte Menschen der 68er Bewegung gingen den Weg nach Innen und wandten sich diverse Strömungen in der Esoterik ( in den 1960er Jahren noch New Age genannt) zu. Diese Psychokultur, der C.G. Jung mit der mythologischen Psychologie quasi die Türen öffnete, sieht Richter kritisch, weil sie dem notwendigen politischen Widerstand Kräfte entzieht. Richter fürchtet technische Allmachtsfantasien könnten durch spiritualistische ersetzt werden, wenn Menschen sich allein auf die weltverändernde Kraft des Bewusstseins konzentrieren. Wichtig sind für Richter regionale Basisinitiativen von Ärzten, Lehrern, Juristen ect, die darauf bestehen , dass ihre Angst um das Leben ernst genommen wird.
Lesenswert ist auch Kapitel 24: Verwandlung von Gewissensangst in Strafangst, in dem es um den Ersatz des Gewissens durch äußere Autoritäten geht, um schuldigen Gehorsam (z.B.Jodl und Eichmann), um das Milgram Experiment und um pervertierte Gehirnwäsche in totalitären Gesellschaften. Erwähnt wird hier auch das Buch „Der Gefühlsstau- Psychogramm einer Gesellschaft ( 1990)“ von Hans Joachim Maaz, in dem Maaz die Wechselwirkungen von staatlicher Repression im DDR-System mit den psychischen Befindlichkeiten der Bevölkerung untersuchte.
„Hätten wir uns eine Chance gegeben, unseren Gefühlsstau wahrzunehmen und aufzulösen oder wenigstens zu vermindern, dann hätte sich latente irrationale Angst in angemessenen Zorn, in berechtigten Schmerz und in Trauer auflösen lassen. Da wir es aber vorgezogen haben, den bequemeren, aber illusionären Weg der Erwartung auf Erlösung von oben und außen zu gehen, so findet jetzt ein umfassender Prozess der Transformation von Angst in Schuldzuweisung statt.“
Der Psychoanalytiker Hans Joachim Maaz spricht in diesem Interview mit Robert Cibis vom 30.6.2021 über Nazismus in der DDR und in heutigen Demokratien sowie über Richter´s Buch "Der Gotteskomplex."
Es gibt kein Leben ohne Angst vor dem andern; schon weil es ohne diese Angst, die unsere Tiefe ist, kein Leben gibt; erst aus dem Nichtsein, das wir ahnen, begreifen wir für Augenblicke, dass wir leben. Man freut sich seiner Muskeln, man freut sich, dass man gehen kann, man freut sich des Lichtes, das sich in unsrem dunklen Augen spiegelt, man freut sich seiner Haut und seiner Nerven, die uns so vieles spüren lassen, man freut sich mit jedem Atemzug, dass alles was ist, eine Gnade ist. Ohne dieses spiegelnde Wachsein, das nur aus der Angst möglich ist, wären wir verloren; wir wären nie gewesen.... ( Max Frisch)
-> C.G. Jung und die Nachtmeerfahrt der Seele
-> Das Märchen von Blaubart und seine tiefenpsychologische Bedeutung
-> Trauer: vom lamento lucano zum Totentanz der Streetart
Der Gotteskomplex. Das Buch beschreibt die moderne westliche Zivilisation als psychosoziale Störung. Er analysiert die Flucht aus mittelalterlicher Ohnmacht in den Anspruch auf egozentrische gottgleiche Allmacht. Anhand der Geschichte der neueren Philosophie und zahlreicher sozio-kultureller Phänomene verfolgt er den Weg des angstgetriebenen Machtwillens und der Krankheit, nicht mehr leiden zu können. Die Überwindung des Gotteskomplex wird zur Überlebensfragen der Gesellschaft und des modernen Menschen.
Die Gruppe. Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien; Psychoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen. 1972.
Lernziel Solidarität. 1974
Umgang mit Angst. 1992.
Wer nicht leiden will, muss hassen. Zur Epidemie der Gewalt. 1993.
Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik. 1995.
Ist eine andere Welt möglich? Für eine solidarische Globalisierung. 2003
Moral in Zeiten der Krise. 2010
In dem Buch Corona Angst fragt Hans Joachim Maaz: Warum handeln Politiker so, wie sie es tun? Was machen das Virus und die Krise mit uns? Und was lösen die omnipräsenten Bilder, Masken und das ständige Abstandhalten in uns aus? Die Psychotherapeuten und Psychologen Dr. Hans-Joachim Maaz, Dr. Dietmar Czycholl und Aaron B. Czycholl erklären, was mit unserer Psyche geschieht, und zeigen Perspektiven auf.